| # taz.de -- Kanadischer Pianist Chilly Gonzales: „Die Bartlänge ist egal“ | |
| > Chilly Gonzales über die Dramaturgie seiner Bühnenshow, Haltungsnoten am | |
| > Piano und das Arschloch, das er im Spiegel erblickt. | |
| Bild: Hier mal mit Einstecktuch: Chilly Gonzales | |
| taz: Chilly Gonzales, Sie sind bekannt für kurzweilige Konzerte mit viel | |
| Interaktion. Wie planen Sie einen Abend? | |
| Chilly Gonzales: Es hat viel damit zu tun, wie gut mich die Zuschauer | |
| kennen und wie sehr ich auf sie eingehen kann. Ich gestalte meinen Act | |
| flexibel. Wenn es heiß draußen ist, ist das Publikum länger an der Bar. Sie | |
| mögen dein Konzert genießen, und doch musst du abkürzen, weil sie wieder | |
| nach draußen wollen. | |
| Ist es an jedem Auftrittsort anders? | |
| Na klar. Wenn ich in London spiele, weiß ich: Die Leute müssen die letzte | |
| Bahn um 23 Uhr erwischen. Also spiele ich ein kompaktes Set, höchstens 80 | |
| Minuten plus Zugabe. Ich will verhindern, dass die Leute denken: Gott sei | |
| Dank, es ist vorbei. Ganz wichtig: Don’t fuck up the end. Sei sensibel! | |
| Im Dokumentarfilm „Shut up and Play the Piano“ sagen Sie: „Das Publikum | |
| soll dich zugleich lieben und hassen.“ | |
| Nun, das Publikum sollte zumindest eine große Bandbreite an Emotionen zu | |
| spüren bekommen. Bei mir gibt es immer verschiedene Stimmungen: surrealer | |
| Humor, Publikumsprovokationen und Exkursionen in die Eingeweide von Musik. | |
| Liebe und Hass lote ich ohnehin aus. Es gibt Musiker, die immer gemocht | |
| werden wollen. Ich versuche, das Publikum auf einer tieferen Ebene | |
| zufriedenzustellen, deshalb zeige ich auch eine negative Seite. Dann werden | |
| sie dich als Künstler noch mehr lieben. Rapper zeigen auch dunkle Seiten, | |
| dennoch akzeptiert dies ihr Publikum. | |
| Warum sprechen Sie nie über private Dinge? | |
| Ich spreche über Dinge, die auch in meinen Songs vorkamen. Aber ich würde | |
| nie über mein Liebesleben rappen, das ist tabu. Die Leute sollen es sich | |
| selbst imaginieren. Ich bin produktiv, habe eine umfangreiche | |
| Persönlichkeit, das möchte ich nicht durch Privates ruinieren. | |
| Ihre Bühnenuniform besteht aus Schlappen und Morgenmantel. Was macht einen | |
| guten Bademantel aus? | |
| Er muss über die Knie gehen. Playboy-Gründer Hugh Hefner trug diese kurzen | |
| Bademäntel, das muss wirklich nicht sein! Für meine Shows nutze ich fünf | |
| verschiedene in Rotation, von denen ich mindestens zwei Exemplare | |
| dabeihabe. Nach einem Jahr kann ich die Mäntel wegschmeißen, den | |
| Schweißgeruch bekommt man dann nicht mal mehr in der Reinigung raus. | |
| Wieso gerade dieses Kleidungsstück? | |
| Ich habe keine Lust auf Kostümwechsel, will aber auch nicht nur im T-Shirt | |
| auf die Bühne. Ich brauche eine Superhelden-Uniform. Besser: | |
| Superbösewicht-Uniform. Bademantel überwerfen, Haare nach hinten gelen, | |
| fertig ist die Laube. Die Bartlänge ist egal. Der Bademantel transformiert | |
| mich, egal, wie ich aussehe. Dann schaue ich in den Spiegel, und zurück | |
| blickt Chilly Gonzales: Hello, Asshole. | |
| Pianisten sehen selten cool aus auf der Bühne. | |
| Als Pianist sitzt man vornübergebeugt, in unschmeichelhafter Position. | |
| Männer in den Vierzigern bekommen oft einen Bauch, das sieht nicht gut aus. | |
| Es kommt vor, dass ich mir einen Pianisten anschaue, der das Hemd in der | |
| Hose trägt, während er spielt, rutscht es langsam heraus. Ich will ihm | |
| zurufen: „Gleich sehen wir deine Wampe, Monsieur!“ Das ist, als würde man | |
| einen Autounfall in Zeitlupe betrachten. | |
| Im Film reden Sie über Ihren Vater und sagen: „Kapitalismus war unsere | |
| Religion.“ Wie meinte er das? | |
| Da müssen Sie meinen Vater fragen! Er bläute uns ein, dass man nur | |
| glücklich sein kann, wenn man erfolgreich ist. Mein Bruder und ich saugten | |
| das auf. Egal, was du tust, das ist ein Schatten, der dich verfolgt. | |
| Katholiken wissen ein Lied davon zu singen: Auch wer 30 Jahre lang nicht in | |
| der Kirche war, meint noch, das Bild von Jesus über dem Bett zu spüren. Ich | |
| habe gelernt, das zu benutzen und es in Kunst zu verwandeln. Ich glaube | |
| aber nicht daran, dass es für Glück den materiellen Erfolg braucht. Meine | |
| kreative Arbeit schließt diese Auseinandersetzung mit ein. Die Frage des | |
| Umgangs damit werde ich nie ganz auflösen. Ich werde weiter Songs | |
| komponieren, die versuchen, dies zu beantworten. | |
| Haben Sie ein Vorbild? | |
| Quincy Jones. Er begann als Musiker in der Band von Ray Charles, wurde dann | |
| Arrangeur für Sinatra und komponierte Filmmusik. Er produzierte das größte | |
| Popalbum aller Zeiten – Michael Jacksons „Thriller“. Quincy wurde zum | |
| Botschafter des Rap, er sagte allen Kollegen: HipHop ist der neue Jazz. | |
| Jones ist wie in der Klassik Leonard Bernstein. Sie sind meine Vorbilder, | |
| wegen ihnen begann ich meine eigene Musikschule, das Gonzervatory. | |
| Haben Sie Jones je getroffen? | |
| Er hat sich 2017 meine Show angeschaut, ohne dass ich es wusste, und hat | |
| währenddessen Sandwiches gemampft. Aber er mochte mein Konzert. Hinterher | |
| kam er an: „Bist du Jude? Ich kann das hören.“ Es war, als würde Yoda zu | |
| mir sprechen. Bei jedem seiner Worte habe ich mich gefragt: Was bedeutet | |
| das? Am Ende spendete er mir das größte Kompliment, das ich mir vorstellen | |
| kann: Ich sei ein baad motherfucker. Hätte ich gerne auf die Stirn | |
| tätowiert: | |
| Sie leben seit einigen Jahren in Köln. Haben Sie ein deutsches | |
| Lieblingswort? | |
| „Gemütlich“: Mir gefällt die Philosophie dahinter. Aus dem Grund trage ich | |
| Pantoffeln. Ich bringe Gemütlichkeit in den Konzertsaal. | |
| 6 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Paersch | |
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