# taz.de -- Doku über Radlegende Lance Armstrong: Unter Siegeszwang | |
> In einer US-Doku versucht Filmemacherin Marina Zenovich dem Phänomen | |
> Armstrong auf die Spur zu kommen. Der gefallene Radsport-Held spielt | |
> sogar mit. | |
Bild: Immer vorwärtsgetrieben: Armstrong im Mai 2010 | |
New York taz | Es ist nun nicht so, dass es nicht bereits genug über Lance | |
Armstrong zu lesen und zu sehen gäbe. Es sind zwei Dokumentarfilme über | |
ihn auf dem Markt und ein Spielfilm, zwei Biografien, eine Autobiografie | |
und zwei Enthüllungsbücher über seine Dopingpraktiken. Und so stellt sich | |
bei der neuen vierstündigen TV-Dokumentation, die in der wettkampffreien | |
Zeit in den USA die Zuschauer auf die Wellen des Sportkanals ESPN bringen | |
soll, automatisch die Frage nach dem Mehrwert. | |
Gemessen an der Schlagzeilenträchtigkeit, das sei gleich gesagt, hat der | |
Film nicht viel zu bieten. Die Enthüllungen lassen sich in ein paar | |
Presseagentur-Meldungen zusammenfassen. Dass Lance Armstrong zugibt, mit 21 | |
zum ersten Mal gedopt zu haben, ist kein echter Schocker und verändert die | |
Bewertung seiner Person nicht grundlegend. Und dass er noch immer einen | |
tiefen Groll gegen seinen einstigen Mannschaftskameraden Floyd Landis hegt, | |
der ihn in ein langwieriges und kostspieliges Gerichtsverfahren verwickelt | |
hat, haut einen auch nicht wirklich vom Hocker. | |
Dennoch sind die vier Stunden überaus kurzweilig. Es ist das erste Mal, | |
dass man Armstrong, mit dem Abstand von nunmehr sieben Jahren seit seiner | |
öffentlichen Ächtung in den USA, dabei zuhören und zusehen kann, wie er | |
seine bewegte und in vielerlei Hinsicht extreme Biografie bewertet und | |
reflektiert. | |
Dabei bekommt man nie das Gefühl, dass die Filmemacherin Marina Zenovich | |
dem Ex-Radler auf den Leim geht. Entgegen der Befürchtung von | |
Armstrong-Skeptikern ist der Film kein PR-Stück, kein Versuch des | |
gefallenen Stars, sein Image und seine Marke unter Kontrolle zu bekommen. | |
## Trügerisches Charisma | |
Sicher, Armstrong bekommt viel Raum. Zenovich hat sich über zwei Jahre acht | |
Mal zu mehrstündigen Interviews mit ihm getroffen und bekam Zugang zu | |
seiner Privatsphäre. Man sieht Armstrong im Motorboot mit seiner Tochter | |
Grace, seine Mutter und seine Ex-Frau treten ebenso auf wie sein erster | |
Schwimmtrainer und sein Jugendfreund John Corioth. | |
Doch Zenovich, die mit einer Dokumentation über Roman Polanski Preise | |
gewonnen hat, bewahrt Distanz. Sie lässt Kritiker und Feinde zu Wort kommen | |
wie Tyler Hamilton, der gegen Lance aussagte, den britischen Journalisten | |
David Walsh, der als Erster Armstrongs Doping-Machenschaften aufdeckte, und | |
weitere kritische Reporter wie Bonnie Ford und Charles Pelkey. | |
Die beiden Letzteren geben gleich zu Beginn dem Zuschauer mit, dass man | |
Armstrong unter keinen Umständen über den Weg trauen darf. Ford fügt noch | |
an, dass Armstrong niemanden kalt lasse, dass er die Menschen in seinen | |
Bann schlage, auf die eine oder andere Art; und dass er sich dieser | |
Fähigkeit, die man gemeinhin Charisma nennt, zutiefst bewusst sei. | |
So machen wir uns mit Armstrong auf die Reise durch seine Biografie, deren | |
Eckdaten zwar hinreichend bekannt sind, die aber in Bildern und Details | |
noch nie so greifbar waren. Wir erleben, wie er und seine Mutter, die erst | |
17 war, als er geboren wurde, ein unzertrennbares Team waren, gleich welche | |
Männer in ihr Leben hinein- und hinausdrifteten. Und wir erleben, wie | |
Armstrong jene tief sitzende Aggression entwickelte, die er in einen | |
unbedingten Siegeswillen, ja man muss sagen, Siegeszwang umgewandelt hat. | |
## Weder Held noch Bösewicht | |
Bei all dem versucht Zenovich, wie auch schon ihr vorhergehendes Subjekt | |
Polanski, zu verstehen – und nicht zu urteilen. Armstrong wird hier weder | |
zum Helden noch zum Bösewicht gemacht, er bleibt eine komplizierte und | |
spannungsreiche Figur. | |
Die spannendste Frage ist freilich, wie er selbst mit seiner Geschichte | |
heute umgeht, was für ein Verhältnis er nach seinem Sturz, seiner Ächtung | |
und der Depression, in die ihn dieser Prozess gestürzt hat, zu sich selbst | |
steht. Eine Frage, die nicht zuletzt deshalb spannend ist, weil Kollegen in | |
derselben Lage daran zerbrochen sind – angefangen bei Jan Ullrich, mit dem | |
ihn, so Armstrong, eine tiefe Sympathie verbindet. Sogar das Wort Liebe | |
verwendet Armstrong für das Verhältnis zu seinem einstigen Rivalen. | |
Die Version, die wir zu sehen bekommen, ist die, dass Armstrong ein überaus | |
differenziertes Bild von den Umständen und Mechanismen hat, die seine | |
Laufbahn und seine Entscheidungen bestimmt haben. Er übernimmt für jede | |
dieser Entscheidungen Verantwortung und betont stolz, dass er immer alles | |
bewusst und selbstbestimmt entschieden hat. | |
Was seinen Kritikern wieder aufstößt, ist, dass er dabei noch immer keine | |
echte Zerknirschung zeigt. Zum wiederholten Mal sagt er, dass er alles | |
wieder genauso machen würde, wie er es getan hat, wenn die Umstände | |
dieselben wären. Doch die Haltung wirkt nicht wie Trotz. Armstrong weigert | |
sich lediglich, sich einer simplifizierenden Moral zu beugen. | |
Das wirkt zwar nicht immer sympathisch, aber ist durchaus nachvollziehbar. | |
Dennoch bleibt am Ende ebenjenes Misstrauen, das die Journalisten Pelkey | |
und Ford formulieren. Armstrong wirkt offen und direkt. Und dennoch hat man | |
den Eindruck, dass seine inneren Konflikte trotz Jahren der Therapie, über | |
die er ebenfalls freimütig spricht, letztlich im Verborgenen bleiben. | |
Vielleicht auch vor ihm selbst. | |
26 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
## TAGS | |
Doping | |
Lance Armstrong | |
Radsport | |
Doping im Spitzensport | |
Sport | |
Doping im Spitzensport | |
Medien | |
Radsport | |
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024 | |
Giro d’Italia | |
Kolumne Kulturbeutel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Lance Armstrong wird 50: Der Typ macht einfach weiter | |
Der gefallene Radprofi mit der spektakulären Dopinghistorie hat sich wieder | |
berappelt. Heute betätigt er sich als Podcaster und Unternehmer. | |
Trend Sport-Dokumentationen: Bis unter die Dusche | |
Von „Kroos“ bis „All or nothing“: Sport-Dokus trenden. Ihre Emotionalit… | |
ist unterhaltend, aber auch Marketing-Instrument. | |
Antidopinggesetz der USA: Streit unter Saubermachern | |
Die USA planen ein Gesetz, mit dem auch Funktionäre aus dem Ausland | |
verfolgt werden können. Gedroht wird auch der Weltantidopingagentur. | |
Doku über Karriereziel Fußballprofi: „Geld ist was Schönes“ | |
Hoffnung auf sozialen Aufstieg durch Fußball: Eine Arte-Dokumentation | |
begleitet ein Nachwuchstalent beim französischen Verein Le Havre AC. | |
Aufstieg und Fall eines Radsportidols: Aufs Rennrad der Geschichte | |
1997 wurde Jan Ullrich zum deutschen Helden. Ein neues Buch beschäftigt | |
sich mit der Karriere des Tour-de-France-Siegers. Ein Vorabdruck. | |
Gesundheitsrisiko Leistungssport: Auf dem Altar der Selbstoptimierung | |
Leistungssportler betreiben Schindluder mit ihrem Körper. Eine Studie | |
zeigt, dass meist jene früher sterben, die bei Olympia hoch hinaus wollen. | |
Netflix-Doku über Profiradsportler: Die Straßenkämpfer | |
Team Movistar macht auf Netflix Werbung in eigener Sache – und verrät | |
dennoch Wesentliches über die Natur des Profiradsports. | |
Doping im Radsport: Absinthbrauer und Blutmanipulateure | |
Der Serienmarathon rund um die Dopingkultur im Radsport will nicht enden. | |
Jetzt hat Ex-Profi Stefan Denifl Blutdoping gestanden. |