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# taz.de -- Aufstieg und Fall eines Radsportidols: Aufs Rennrad der Geschichte
> 1997 wurde Jan Ullrich zum deutschen Helden. Ein neues Buch beschäftigt
> sich mit der Karriere des Tour-de-France-Siegers. Ein Vorabdruck.
Bild: Als Jan Ullrich zu einem deutschen Held wurde wurde: Tour de France 1997
Als am 5. Juli 1997 die Tour de France in Rouen startete, war es in
Deutschland noch lange nicht selbstverständlich, dass in den folgenden drei
Wochen am Nachmittag in den Büros die ARD eingeschaltet wurde und es auf
öffentlichen Plätzen Viewingpartys gab.
So saßen am 15. Juli zum Start der 10. Etappe in Luchon nur eingefleischte
Radsportfans vor den Fernsehern. Nur Kenner wussten zu diesem Zeitpunkt,
dass etwas Großes in der Luft lag.
Auf dem Programm stand an jenem Tag eine [1][monströse Etappe] mit 252,5
Kilometern und fünf Pyrenäenpässen. Die Ziellinie zog sich über den
höchsten Punkt der Straße hinauf in die Skistation Ordino-Arcalís in
Andorra. Die Ausgangslage war so: Im Gelben Trikot saß der Franzose Cédric
Vasseur, der seinen Vorsprung von einer Attacke der ersten Woche gerade so
über den Tourmalet gerettet hatte. Kurz dahinter lauerte Ullrich, der sich
am ersten Tag in den Pyrenäen noch zurückgehalten hatte.
Wer nun den richtigen Riecher hatte und sich am Nachmittag des 15. Juli
1997 irgendwo ein Fernsehgerät suchte, der konnte live jene Bilder sehen,
die sich später als Geburt eines deutschen Helden in das kollektive
Bewusstsein brannten.
Das Spektakel begann irgendwo auf der Carretera general 2, der
Nationalstraße, die Andorra von Osten nach Westen durchquert. Vom Peloton
waren nach sieben Stunden nur noch 17 Mann übrig geblieben, die Besten
dieser Tour, die nun am 11 Kilometer langen Schlussanstieg unter sich den
Primus ausfahren würden. Jan Ullrich bewegte sich leicht durch diese
Gruppe, so, als hätten ihm die mehr als 200 Kilometer des Tages nicht das
Geringste anhaben können.
## Das ganze Feld vernichten
In der ersten Serpentine ging Ullrich dann kurz aus dem Sattel, er erhöhte
kaum die Trittfrequenz, er brachte nur ein klein wenig mehr Druck auf die
Pedale. Doch es reichte, um seine verbliebenen Widersacher abzuschütteln.
Es war das letzte Mal, dass er sich umschaute. Danach beugte er sich über
seinen Lenker, die Ellbogen angewinkelt, der Oberkörper nur ganz leicht im
Rhythmus wippend, und schlug seinen unbarmherzigen Takt an, der das gesamte
Feld der Tour vernichten würde.
Alle verblassten sie an diesem Tag hinter dem neuen Tour-Helden. Die beiden
Kletterspezialisten Marco Pantani und Richard Virenque ließen hinter
Ullrich ihre Kurbeln wirbeln, was das Zeug hielt, doch ihr Gesichtsausdruck
verriet Resignation. Noch bevor Ullrich die Ziellinie erreichte, sagten die
Kommentatoren voraus, dass dieser Ullrich die kommenden zehn Jahre die Tour
dominieren würde.
Das Bild, wie er kurz vor dem Ziel sein deutsches Meistertrikot mit den
Farben Schwarz, Rot, Gold zurechtrückte und die Arme in den Himmel
streckte, würde an diesem Abend in alle deutschen Wohnzimmer ausgestrahlt
werden. Es lief in der „Tagesschau“, und es würde am nächsten Tag die
Titelseiten der Zeitungen zieren.
So erlebten am übernächsten Tag schon Millionen an den deutschen
Bildschirmen Ullrichs Triumphfahrt beim Zeitfahren von Saint-Étienne. Es
war erneut eine Demonstration der Dominanz.
## Der unverwundbare Radsportheld
Nun waren es noch neun Tage bis Paris, neun Tage, in denen in Deutschland
eine Radsporthysterie ausbrach, wie es sie noch nie gegeben hatte. Man
konnte gar nicht genug davon bekommen, Jan Ullrich Tag für Tag dabei
zuzusehen, wie er im Gelben Trikot eine Überlegenheit demonstrierte, die
man so von einem deutschen Sportler vielleicht noch nie gesehen hatte.
Die deutsche Fußballnationalmannschaft hatte den WM-Titel 1990 gewonnen,
aber sie war nicht unantastbar. Boris Becker kämpfte immer vor aller Augen
so sehr mit sich selbst wie mit seinen Gegnern. Doch Ullrich war bei dieser
Tour unverwundbar.
Als Ullrich dann endlich auf den [2][Champs-Élysées] als „Kaiser“ der Tour
gekrönt wurde – wie ihn vornehmlich die französische Presse titulierte –,
war man in Deutschland außer sich. Sein Empfang am Bonner Rathaus in der
Woche danach glich der Ankunft der Beatles in Amerika im Jahr 1964. Die
Bonner Bürgermeisterin Bärbel Dieckmann ließ sich beim Eintrag in das
Goldene Buch der Stadt zu dem Satz hinreißen: „Sie stehen in einer
glaubwürdigen Reihe mit Adenauer, Gorbatschow, de Gaulle und dem Papst.“
Für Ullrich selbst muss das alles verwirrend gewesen sein. Einerseits war
dieser Überschwang an Zuneigung schmeichelhaft, berauschend vielleicht
sogar. Andererseits mussten ihn Vergleiche mit Konrad Adenauer und dem
Papst und Prognosen einer jahrzehntelangen Dominanz doch befremden.
## Dem Held nahe sein
Man hatte Jan Ullrich in Deutschland zwar schon 1996 wahrgenommen, als er
Zweiter bei der Tour wurde, doch im Jahr seines Tour-Siegs war etwas
anderes passiert. Als Ullrich aus Frankreich zurück nach Deutschland kam,
gab es ein Massenpublikum, das ihn zehn Tage oder länger stundenlang im
Fernsehen gesehen hatte.
Jeder, der ihm bei seiner Triumphfahrt zugeschaut hatte, glaubte nun, ihn
zu kennen. Er war „unser Jan“ geworden. Sportphilosoph Gunter Gebauer hat
die Heldenbildung im Sport einmal so beschrieben: „Das Publikum wünscht
sich sein Idol nicht aus seiner Gemeinschaft heraus; es will den Athleten
bei sich behalten, als einen der Seinen, und auf dieser Weise an der
übermenschlichen Leistung partizipieren.“
Es ist ein eigenartiges Verhältnis, das die Fans zu ihren Sportidolen
haben. Man glaubt, ihnen nahe zu sein, aber es ist eine falsche Nähe. Es
ist, wie Gebauer es beschreibt, ein Affekt, der keiner echten Person gilt.
Der Fan verliebt sich nicht in eine komplexe Persönlichkeit, sondern in
eine „Maske“, in ein Idealbild.
## Unsere Mittelmäßigkeit
Diese Liebe ist unentwirrbar mit der Selbstliebe des Fans verwoben. Wir
lieben den Sporthelden, weil er unser Selbstwertgefühl steigert. Weil er
einer von uns ist und trotzdem übermenschlich, suggeriert er uns allen auf
unseren Sofas, dass wir unserer Mittelmäßigkeit entrinnen können. Gebauer
beschreibt dieses Phänomen mit dem Begriff des Charismas. „Das Charisma des
Helden und die innere Unterwerfung seiner Bewunderer bilden eine Balance:
Außen revolutioniert der Held die alten Ordnungen, in der Gemeinde bildet
sich innere Unterwerfung unter das noch nie Dagewesene, deshalb Göttliche.“
In solchen Momenten, wie im Sommer 1997 wird der Alltag gesprengt. Jan
Ullrichs Ritt durch die Pyrenäen löste einen Taumel aus, in dem für einen
kurzen Moment die Gemeinschaft der Anhänger glaubt, aus der Enge ihrer
Existenz ausbrechen zu können.
Es macht sich eine kollektive Ekstase breit. Für ein paar Tage glaubte
Deutschland, dass nicht alles so sein muss, wie es ist, sondern dass es
reines Glück geben kann. Es war ein Gefühl, das süchtig machte, ein Gefühl,
das die Nation danach immer wieder im Juli erleben wollte und von ihrem
Erlöser, der jetzt Jan Ullrich hieß, forderte. Die Psychoanalyse kennt
diese Art der Bindung an ein reduziertes Idealbild als eine unreife Form
der Objektbeziehungen – ein Bindungstyp, der jedoch für die massenhafte
Verehrung eines Idols typisch ist.
Man ist verliebt in ein bestimmtes Bild einer Person, in diesem Fall das
heroische, das einem angenehme Gefühle bereitet. Dass dieselbe Person auch
andere Dimensionen hat, blendet man aus.
Die extreme Kriminalisierung, die Jan Ullrich nach 2006 erfuhr, war
zweifellos das Ergebnis des paranoid-schizoiden Verhältnisses der deutschen
Fans zu ihrem Idol. Dass er eine komplizierte Person mit Fehlern und
Problemen ist, hatte keinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung. Ullrich
konnte nur Held oder Bösewicht sein, eine andere Rolle war für ihn nicht
vorgesehen.
## Die betrogenen Liebhaber
Die deutschen Gefühlsschwankungen im Umgang mit nationalen Idolen
beschränken sich freilich nicht auf Jan Ullrich. Deutschland oszilliert
gern zwischen Ekstase und dem Zorn des sich betrogen wähnenden Liebhabers,
wenn es um seine Helden geht.
Den Ursprung dafür haben bereits 1967 die Psychoanalytiker Alexander und
Margarete Mitscherlich in ihrem viel diskutierten Aufsatz [3][„Die
Unfähigkeit zu trauern“] untersucht. Dabei haben sie speziell den ihrer
Meinung nach verunglückten Übergang zwischen dem Naziregime und der
demokratischen Bundesrepublik unter die Lupe genommen. Anstatt sich der
Scham und der Depression, die sicherlich gefolgt wäre, auszusetzen, hat die
Mehrheit der Deutschen so getan, als hätte es das Dritte Reich nie gegeben.
Doch in Ermangelung der nötigen Trauerarbeit habe eine echte Trennung vom
Objekt der Anbetung nie stattgefunden.
So ist es sicherlich nicht allzu weit hergeholt, wenn man behauptet, dass
der Sport einer jener Lebensbereiche war, in denen sich das Verdrängte nach
1945 in Deutschland sein Recht suchte. Gleich, ob es die
Fußballweltmeisterschaften waren oder die Triumphe von Boris Becker und Jan
Ullrich, jedes Mal entfachte der Erfolg einen nationalen Freudentaumel, der
distanzierten Beobachtern immer etwas zu viel war und immer etwas Unbehagen
bereitete. So hatte die Jan-Ullrich-Euphorie des Jahres 1997 auch einen
ganz starken Beigeschmack dieses „Endlich-wieder-Dürfens“. Es war eine
Vergötterung, die ein klein wenig zu weit ging. Und die dann später brutal
ins Gegenteil umschlug.
14 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=N3jRlrknXzM
[2] https://www.youtube.com/watch?v=9K4NRsbgjhs
[3] https://docupedia.de/zg/Mitscherlich,_Unf%C3%A4higkeit_zu_trauern
## AUTOREN
Sebastian Moll
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