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# taz.de -- Entscheidung bei der Tour de France: Lauter Siegeskannibalen
> Selten hat ein Team die Tour so dominiert wie das von Gesamtsieger Jonas
> Vingegaard. Wer nach Vergleichbarem forscht, landet beim Thema Doping.
Bild: Zwei Sieger, ein Team: Jonas Vingegaard freut sich mit Christophe Laporte…
Jumbo-Visma holt mit Jonas Vingegaard die Tour de France. Dazu sammelt der
niederländische Rennstall zwei weitere Wertungstrikots ein und holt fast
ein Drittel der Etappensiege. Die in gelb-schwarze Trikots gekleideten
Rennfahrer übertreffen mittlerweile sogar das einstige Dominanzvorbild Sky
beziehunsweise Ineos. Es scheint ein Team aus lauter Eddy Merckx’ zu sein –
Siegeskannibalen, die ihre Rivalen förmlich auffressen.
Selten hat ein Team eine Tour de France derart im Griff gehabt. Um den
Träger des Gelben und des Grünen Trikot in einem Team zu finden, muss man
bis 1997 zurückblättern. Vor 25 Jahren [1][gewann Jan Ullrich Gelb in
Paris] und Erik Zabel holte das Sprintertrikot. Bereits im Jahr zuvor hatte
Zabel mit seinem Grünen Leibchen zur Doppelfreude bei Team Telekom
beigetragen. Damals gewann Bjarne Riis Gelb.
Der Däne hat jetzt einen Landsmann als Nachfolger. Jonas Vingegaard
zementierte auf dem Pyrenäenanstieg von Hautacam seine Vormachtstellung. Es
war der Berg, an dem Riis 1996 Gelb eroberte. Ist l’Alpe-d’Huez der
Holländerberg, so dürfte Hautacam jetzt zum Dänengipfel mutieren.
Team Jumbo-Visma toppte sogar die einstige Dominanzvorstellung von Team
Telekom. Während vor 26 Jahren der Mann in Grün 20 Minuten hinter Kapitän
Riis ins Ziel rollte, war in diesem Jahr mit Wout van Aert der beste
Sprintpunktesammler im Peloton bis ins Finale von Hautacam ganz vorn mit
dabei. Seine Beschleunigung versetzte Tadej Pogacar gar den Knock-out.
Bezogen auf die 1990er Jahre wäre das so, als hätte Zabel damals am Berg
den fünffachen Toursieger Miguel Indurain stehen gelassen.
## Beifang Bergtrikot
Der historische Exkurs zeigt nur die historische Dimension der Dominanz von
Jumbo-Visma auf. Der Ritt nach Hautacam bescherte Vingegaard auch noch das
Bergtrikot, das er als Beifang dem Berliner Simon Geschke abnahm. „Wir sind
an keinem Moment des Rennens auf das gepunktete Trikot gefahren. Es ist ein
schöner Zusatz“, versicherte Jumbo-Vismas sportlicher Leiter Grischa
Niermann der taz – und äußerte sogar Bedauern, dass sein Top-Rennfahrer das
Leibchen abgenommen hatte.
Es war fast zu viel des Erfolgs, selbst für den Taktikfuchs im
gelb-schwarzen Begleitwagen. Die dritte Woche wurde ohnehin zu einem
Triumphzug für sein Team. Dem Sieg auf Hautacam durch Vingegaard am
Donnerstag fügte am Freitag Christophe Laporte einen Sieg im Flachen hinzu.
Der Franzose war so stark, dass er sich aus dem in Erwartung eines
Massensprints immer schneller werdenden Peloton noch herauslösen konnte. Es
war zugleich der erste Etappensieg eines französischen Profis bei dieser
Frankreichrundfahrt. Jumbo-Visma ist derart gewaltig, dass ein Helfer des
Mannes in Gelb im Nebenjob auch noch die Ehre der Gastgebernation retten
kann.
## Plötzlich Zeitfahrer
Am Samstag folgte der Doppelsieg im Zeitfahren. Die Überraschung dabei war
weniger, dass van Aert gewann. Der Belgier kann exzellent Zeitfahren. Der
Tageszweite Vingegaard fiel in dieser Spezialdisziplin bisher nicht so
auf. Bei seinen bislang 24 Zeitfahren in der Karriere gewann er niemals,
wurde nur einmal Dritter. Lediglich ein Sieg im Teamzeitfahren mit dem
dänischen Nationalteam bei der Tour de l’Avenir steht zu Buche.
Einen Prolog, ein kurzes Zeitfahren über weniger als 10 Kilometer, gewann
Vingegaard 2018 im Schatten des Montblanc, damals noch für sein dänisches
Entwicklungsteam ColoQuick. Ansonsten Zeitfahrflaute. In diesem Jahr war er
aber [2][schneller als Pogacar], der sonst auch gern die Zeitfahren bei
Grand Tours gewinnt. Und er war schneller unterwegs als Teamkollege van
Aert.
Auf den letzten Metern nahm Vingegaard aber Dampf raus. So fiel van Aert
der Etappensieg zu. In der Tageswertung war er trotz Bremsspur ein paar
Sekunden schneller als Pogacar. In der Gesamtwertung lag er mehr als drei
Minuten vorn.
## Vorbildlicher Teamgeist
Solche Dominanz wirft Fragen auf. Vingegaard beantwortete sie brav. „Wir
sind alle sauber, jeder von uns“, legte er am Samstag auf der
Pressekonferenz die Hand für sich und alle seine Teammitglieder ins Feuer.
„Ich denke, wir sind so gut, weil wir uns so gut vorbereiten“, ergänzte er
noch, und wies auf Höhentrainingslager, das herausragende Material, die
Ernährung und überhaupt das Training hin.
Hinzufügen muss man wohl auch die besondere Teamphilosophie bei
Jumbo-Visma. Die französische Sportzeitung l’Equipe nannte die in Anlehnung
an den „Voetbal total“ der niederländischen Fußballnationalmannschaft in
den 1970er Jahren „Radsport total“. So wie bei den Oranjes alle
mitstürmten, wenn man den Ball hatte, und alle mitverteidigten, wenn das
Spielgerät beim Gegner war, zeichnet sich auch der Wespenschwarm auf dem
Rad durch homogene Denk- und Handlungsweise aus.
Damit lassen sich sogar sehr gegensätzliche Ziele verfolgen, wie eben auf
Sprintpunkte mit van Aert zu gehen und gleichzeitig Gelb mit Vingegaard im
Blick zu haben. Dafür seien monatelange Gespräche nötig, um die jeweiligen
Rennfahrer-Egos auf kollektive Ziele einzustimmen. „Ich will mehr sein als
nur ein Helfer, der mitfährt. Ich will Rennen gewinnen. Aber wenn ich diese
Freiheit habe, kann ich auch besser zum Erfolg des gesamten Teams
beitragen“, illustrierte van Aert diese Denkweise.
Abgeguckt hat man sie sich neben dem legendären Oranjeteam auch bei den All
Blacks, der Rugbynationalmannschaft Neuseelands. Deren Wahlspruch
„Hinterlasse das Trikot an einem besseren Ort“ hebt das Wohlergehen und den
Erfolg der Gruppe über Resultate der Einzelnen. Wenn mehr Glorie zum
Leibchen kommt, das vorher andere Große trugen, dann ist das Ziel erreicht.
Jumbo-Visma scheint das verinnerlicht zu haben. Es ist ein Baustein zum
Erfolg. Ob man die Parallele zu Team Telekom noch weiterverfolgen muss,
wird erst die Zukunft zeigen. Die Magenta-Erfolge zerbröselten angesichts
der späteren Dopinggeständnisse.
Stand jetzt ist wenig mehr möglich, als der Aufforderung des neuen
Tour-de-France-Dominators zu folgen – oder ihr eben nicht zu folgen.
„Niemand von uns nimmt etwas Illegales. Ihr könnt uns vertrauen“, beteuerte
Jonas Vingegaard. In dem Sport, in dem an jedem Milligramm Material
geforscht und jede Wattreserve mobilisiert wird, will der aktuell größte
Profiteur all dessen dem Zuschauer nur eine vorwissenschaftliche
Kulturtechnik zugestehen: den Glauben an das Gute. So eine Tour de France
ist eben eine sehr archaische Angelegenheit. Mitfiebern und Glauben – und
das im 21. Jahrhundert.
25 Jul 2022
## LINKS
[1] /Aufstieg-und-Fall-eines-Radsportidols/!5692322
[2] /Zweikampf-bei-der-Tour-de-France/!5865409
## AUTOREN
Tom Mustroph
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