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# taz.de -- Kolumne Pressschlag: Die Tragik des Jan Ullrich
> Jan Ullrich ist ein Paradebeispiel dafür, wie grausam der Sport mit
> seinen Athleten umgehen kann. Öffentlichkeit und Medien dämonisierten
> ihn.
Bild: Jan Ullrich steht ein langer, schwieriger Weg bevor
Es waren erschütternde Bilder und Nachrichten, die im August 2018 [1][vom
gefallenen Rad-Heros Jan Ullrich] an die deutsche Öffentlichkeit drangen.
Das alles ergab das Bild eines Lebens, das hoffnungslos aus dem Ruder
gelaufen ist. Es war eine Tragödie, die sich vor aller Augen abspielte, und
zum ersten Mal seit seinen großen Erfolgen richtete sich vonseiten der
deutschen Öffentlichkeit ein mitfühlender Blick auf den gefallenen Helden.
Die Systemfrage wurde aber wieder nicht gestellt. Jan Ullrich ist ein
Paradebeispiel dafür, wie grausam der Hochleistungssport mit seinen
Athleten umgehen kann. Der ehemalige Mannschaftskamerad Jan Ullrichs, Jörg
Jaksche, [2][verknappte die Dynamik in einem Interview auf die Formel:] „Du
wirst bis aufs Letzte ausgequetscht. Und dann wirst du fallen gelassen.“
Damit klagte Jaksche alle an, die am Sport partizipieren: Fans, Politik,
Medien, die Wirtschaft.
„Es gibt eine Schuld der gesamten Gesellschaft, die sie nicht wahrnimmt“,
sagt der Berliner Sportsoziologe Gunter Gebauer. Der Fall Jan Ullrich ist
ein Extremfall, aber lange kein Einzelfall. Die Liste der ehemaligen
Sportidole, die im zivilen Leben nie oder nur unter großen Wehen Tritt
gefasst haben, ist lange.
Der „Bomber der Nation“ Gerd Müller gehörte ebenso dazu wie seine
Fußballkollegen Erwin Kostedde und Uli Borowka. Die Schwimm-Olympiasieger
Ian Thorpe und Michael Phelps berichteten von einem jahrelangen Kampf mit
Depressionen. Der Skisprung-Olympiasieger Matti Nykänen kämpft bis heute
mit schweren Alkohol- und Drogenproblemen.
## Moralisierende Berichterstattung
Wie Gebauer sagt, wird in jeder ehrlichen Sportlerbiografie der Übergang
von der Sportkarriere ins Leben danach als Krise beschrieben. Nur selten
führt der Übergang wie im Fall Ullrich zu einem psychosozialen Kollaps.
Doch die Faktoren, die bei ihm in einer besonders unglücklichen Kombination
zum Zusammenbruch geführt haben, wirken auf jeden, der einmal Sport als
Beruf oder wenigstens als Lebensinhalt betrieben hat.
Ullrich rang zeit seiner Laufbahn mit den Ansprüchen, die an ihn gestellt
wurden – vom Staatsapparat der DDR, von der deutschen Öffentlichkeit, vom
Staatskonzern Telekom. Seit seinem Tour-de-France-Sieg 1997 waren bei ihm
Ausweichbewegungen zu beobachten – er nahm in der Nachsaison zu, Gerüchte
um Alkoholexzesse machten die Runde.
Zum endgültigen Absturz führte für Ullrich jedoch erst das jähe Ende seiner
Laufbahn. Das Karriereende ist für viele Sportler traumatisch. Für Ullrich
kam hinzu, dass es abrupt war und wegen seiner Dopinggeschichte mit einer
totalen sozialen Ächtung zusammenfiel. Ullrich war zum Marketing Disaster
geworden. Über das systematische, von der Mannschaft organisierte und
vermutlich vom Konzern geduldete Doping wurde nicht gesprochen, die
Medikamenteneinnahme wurde erst einmal als Einzeltat dargestellt.
Ullrich verlor von einem Tag auf den nächsten alles – Anerkennung,
Selbstwertgefühl, seine Existenz. [3][Die Öffentlichkeit, befeuert von
einer moralisierenden Berichterstattung, dämonisierte ihn.] Die Radsportler
Marco Pantani und Frank Vandenbroucke sind an einer ähnlichen Situation
zerbrochen. Vandenbroucke überlebte einen Suzidversuch, weil ihn eine
Teamkollege rechtzeitig fand. Nachdem er 2009 an einer Lungenembolie
gestorben war, fanden sich in seinem Körper Spuren von jahrelangen
Drogenkonsum. Und als Marco Pantani 2014 an einer Überdosis Kokain starb,
machte man sich viel zu spät Gedanken über die psychische Verfassung des
nach seinem Ausschluss vom Giro d’Italia 1999 von vielen geächteten
Italieners.
Andere gefallene Fahrradstars wie Floyd Landis und Tyler Hamilton sind laut
Selbstbeschreibungen durch eine tiefe Krise gegangen, an der sie dem Suizid
nahe waren.
## Teil des Gesamtkomplexes
Jan Ullrich steht ein langer, schwieriger Weg bevor. In der Zwischenzeit
ist die Öffentlichkeit gefordert, wie Gunter Gebauer sagt, sich mit dem
„äußersten Verständnis und der äußersten Nachsicht“, Jan Ullrich und a…
anderen Athleten zuzuwenden, die mit einem Übergang in ein Leben nach dem
Sport ringen. Dazu gehört auch, sich zu fragen, was alle, die in
irgendeiner Form am Sport teilhaben, zu dieser Katastrophe beigetragen
haben.
Die Medien und Fans, die, so Gebauer, zwischen „einem Voyeurismus des
Sieges und einem Voyeurismus der Tragik“ changieren; die Politik und die
Wirtschaft, die Siege und Medaillen fordern, sich aber vor ihrer
Verantwortung gegenüber den Athleten drücken. Und die Moralisten, die
Doping-„Sünder“ kriminalisieren, anstatt Doping als Teil des
problematischen Gesamtkomplexes Leistungssport zu begreifen.
31 Dec 2018
## LINKS
[1] /Jan-Ullrich-zum-40-Geburtstag/!5053694
[2] https://www.sueddeutsche.de/sport/joerg-jaksche-ueber-jan-ullrich-er-wollte…
[3] /Medienhetze-gegen-Ex-Radprofi-Ullrich/!5524656
## AUTOREN
Sebastian Moll
## TAGS
Jan Ullrich
Medienkritik
Doping
Doping im Spitzensport
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Ironman
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