Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Umgang mit der Coronakrise: Ostdeutsche Erfahrung kann helfen
> Meine Eltern haben die sogenannte Wende erlebt. Der Coronakrise begegnen
> sie entspannt. Sie wissen: Es gibt Dinge, die kann man nicht
> beeinflussen.
Bild: Das entschleunigte Leben in der Natur könnte so schön sein, wäre da ni…
Meine Mutter ruft an und fragt, ob soweit alles in Ordnung bei mir sei. Sie
hat meine letzte, ausgesprochen [1][maulig geratene Kolumne] gelesen und
mutmaßt nun, ich läge heulend in der Ecke. Mach es doch wie dein Vater und
ich, sagt sie. Wir versuchen, gesund zu bleiben, halten Abstand zu anderen,
informieren uns soweit wie nötig und lassen den Mut nicht sinken. Es wird,
es muss ja wieder besser werden.
Dabei liege ich mitnichten in der Ecke, sondern führe, bei zugegeben
schwankender Stimmung, seit Wochen ein entschleunigtes Leben in der Natur.
Das Ganze [2][bei interessanter Schreibtischarbeit], regelmäßiger Bewegung
an frischer Luft und gesunder Frühlingskost. Wäre da nicht dieses Gefühl
schwankender Planken in Coronazeiten, könnte ich getrost den
Brandenburger Superlativ verwenden: Kann man nicht meckern.
Meine Eltern allerdings meckern überhaupt nicht. Das mag daran liegen, dass
sie mit Mitte achtzig keine Pläne jener Sorte hegen, ein Start-up zu
gründen oder auf Welttournee zu gehen. Tatsächlich aber scheint mir ihr
freundlicher Langmut ihrer Lebenserfahrung geschuldet.
Vor dreißig Jahren sind sie schon einmal durch eine maximale Umwälzung der
Verhältnisse gegangen. Die sogenannte Wende bestand ja für Ostdeutsche
mitnichten nur darin, unter Freudentränen durchs Brandenburger Tor zu
taumeln. Viele meinten anfangs tatsächlich, das Land, das sie mit aufgebaut
hatten, politisch und ökonomisch reformieren zu können. Meine Mutter
schrieb damals Konzepte für neue Studiengänge, knüpfte Kontakte zu
westdeutschen Unis, netzwerkte mit KollegInnen in Osteuropa. Ich hatte,
erzählt sie mir, den Anspruch, einen Platz in der Gesellschaft zu finden.
## Lächeln in unseren Augen
Tatsächlich jedoch wurden meine Eltern sehr bald arbeitslos.
[3][Warteschleife, lautete der arbeitsmarktpolitische Euphemismus dafür],
dass der Staat Leute wie sie mit sehr viel Steuergeld zur Ruhe zu bringen
versuchte. Die Schleife, in der sie warten sollten, endete dann aber
tatsächlich nie, wurde lediglich unterbrochen von Beschäftigungsmaßnahmen
durch das Arbeitsamt. Die beiden wurschtelten sich so durch. Als sie
offiziell RentnerInnen werden durften, war das besser so für alle Seiten.
Dieses Gefühl also, dass gerade gar nichts mehr sicher ist und dass es
nicht an dir ist, die Dinge zu beeinflussen, kennen meine Mutter und mein
Vater gut. Und dennoch nölen sie nicht rum, sondern wuseln durch Haus und
Garten, lesen kluge Bücher und schreiben ihren Urenkeln lustige Briefe. Und
natürlich bekomme ich wie in jedem Frühling von meiner Mutter vorgezogene
Tomatenpflanzen.
Ich setze mich also ins Auto, fahre zum Haus meiner Kindheit und klingele.
Die Tomaten stehen gleich neben dem Gartentor. Wir stehen einander
gegenüber, schauen uns an aus maskierten Gesichtern und erkennen das
Lächeln in unseren Augen. Was für eine Freude, dass wir uns haben. Unter
allen, wirklich allen Umständen.
6 May 2020
## LINKS
[1] /Corona-und-die-Stadt-Schwaetzer/!5677120
[2] /Isolation-in-Corona-Zeiten/!5674622
[3] /Neue-Buecher-ueber-die-Folgen-der-Wende/!5632216
## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
Bauernfrühstück
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Ostdeutschland
Bauernfrühstück
Bauernfrühstück
Schwerpunkt Coronavirus
Bauernfrühstück
Bauernfrühstück
Bauernfrühstück
Bauernfrühstück
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aus eigenen Erfahrungen lernen: Mehr als eine Wahrheit
Vor 30 Jahren besuchte ich mit anderen Ostberlinern Frankreich und lernte
dazu. Seitdem sind mir Leute unheimlich, die genau wissen, wo es langgeht.
Ganz praktisch gegen das Klima: Zeugnisse beim TÜV
Eine Schule lässt den Abiturjahrgang per Auto zum Abschluss defilieren. So
ist Brandenburg? Nicht immer, in diesem Falle aber leider schon.
Alleinerziehende Frauen zu Coronazeiten: Wir kommen schon klar
Eine Frau, zwei Kinder, ihr Alltag zu Coronazeiten: Morgens Haferflocken,
nachmittags Staubsaugen – und wer dreht durch? Eine Kurzgeschichte.
Provinz probt Normalität: Rebellierende Biker-Brüder
Langsam bewegt man sich auf dem Brandenburgischen Land wieder in Richtung
Alltag. Im Eiscafé wagen ein paar Senioren ein Abenteuer.
Corona und die Stadt-Schwätzer: Ein bisschen Ruhe
Dieses Land scheint in den Städten überwiegend aus Virologen zu bestehen.
Gut, wenn diese nervenden Brüder und Schwestern nicht am Gartenzaun stehen.
Isolation in Corona-Zeiten: Das weiße Rauschen
Mein Lohn wird gezahlt, Essen habe ich auch – doch die Isolation genießen,
das klappt nicht. Stattdessen wache ich nachts von Albträumen geplagt auf.
Corona auf dem Land: Schutzmasken mit Schlüppergummi
Landbewohner*innen sind nicht dem gleichen Infektionsrisiko ausgesetzt wie
Menschen in der Stadt. Aber auch sie fordert Corona emotional heraus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.