# taz.de -- HipHop in Berlin-Neukölln: So real wird es nie wieder | |
> Die drei Brüder der MIK-Family tanzen, modeln und schauspielern. Aber am | |
> liebsten sind sie dort, wo alles begann: im Jugendclub in | |
> Berlin-Neukölln. | |
Bild: Sie leben für den HipHop: Dennis Kyere, Prince Ofori und Isaac Kyere (vo… | |
Alles grau in grau: Eine dunkelgraue S-Bahn-Brücke quert die mehrspurige, | |
viel befahrene schwarzgraue Hauptstraße Grenzallee im Süden Berlins, im | |
Bezirk Neukölln. Daneben asphaltierte Freiflächen, die sich kaum von der | |
Farbe des bedeckten Himmels unterscheiden, eine Autowerkstatt und viele | |
leere Parkplätze. Einzig das Schild der McDonald’s-Filiale leuchtet bunt. | |
Es ist Mitte März und vermutlich deshalb so leer, weil die Coronapandemie | |
die Leute zu Hause hält. Treffen darf man sich aber noch. Die Tür des | |
Jugendzentrums Grenzallee ist geöffnet; im Eingangsbereich ein paar | |
Pflanzen mit hängenden Köpfen. „Tanzraum“ steht auf einer Tür, dahinter | |
wummert der Bass. | |
„Das hier ist der wohl legendärste Raum der Berliner Streetdance-Szene“, | |
sagt Prince Ofori. Er ist ein „O.G.“, ein „Original Gangster“, eine Leg… | |
– und das heißt unter HipHopperinnen und HipHoppern schon was. „Jeder, der | |
in den letzten Jahren in der Szene aktiv gewesen ist, war auch mal hier, | |
behaupte ich.“ Prince zeigt in die Richtung, wo die Mädchen und Jungen | |
tanzen, schweißnass und mit glänzender Stirn. Die Fenster sind neblig | |
beschlagen. | |
Die Jugendlichen sind hochkonzentriert. In fast hypnotischer Ekstase | |
tanzen sie zu HipHop-Musik, die aus mannshohen Boxen dröhnt. Niemand leitet | |
sie an. Alle versuchen wegen des Virus Abstand zu halten. Und während eine | |
der Tänzerinnen in einen besonderen Flow gerät, sich in die Musik förmlich | |
hineindreht, jede Nuance des scheppernden Beats in eine Bewegung übersetzt, | |
wird drum herum anerkennend genickt. | |
An diesem Mittwochabend findet im Jugendzentrum Grenzallee eine „Session“ | |
statt, eine spontane Verabredung zum HipHop-Tanzen. Sogar Tänzer aus | |
Frankreich sind heute dabei, jemand hat ihnen Bescheid gesagt. | |
Prince Ofori trägt einen Hut, wie man ihn aus dem Sommerurlaub kennt, | |
schief sitzt er auf seinem Kopf. Seine jüngeren Brüder Isaac und Dennis | |
Kyere laufen in Sneakers neben ihm her, beide überragen den Bruder | |
deutlich. Alle drei nennen den Jugendclub ihr Zuhause. | |
Schon als Kinder waren sie hier, mit 14, 11 und 5 Jahren, 2002 zum ersten | |
Mal, 18 Jahre ist das jetzt her. Hier haben sie ihre Wut und Verlorenheit | |
rausgetanzt, sich festgebissen, eigene Schritte und Choreografien | |
entwickelt oder einfach nur Musik gehört und zusammen gekocht. Hier fing | |
alles an, hier begann ihre Karriere, die sie zu den Choreografen und | |
Tänzern machte, die 2019 die Gruppe Seeed auf ihrer Deutschlandtour | |
begleiteten. | |
Musiker haben einen Namen, Tänzer kennt man in der Regel nicht. Dabei gilt | |
ihre Crew, die „M.I.K Family“ mit Prince, dem Gründer, als eine der | |
„realsten“ HipHop-Crews von Berlin. Real sein – mehr geht nicht. | |
Sie prägen schon über ein Jahrzehnt die Trends. Prince, 32, ist | |
berüchtigter Krump-Tänzer. Er hat diesen ausdrucksstarken Stil, der sich | |
durch aggressive, impulsive Bewegungen und viel Emotion auszeichnet, als | |
einer der Ersten in Deutschland bei diversen Theaterproduktionen auf die | |
Bühne gebracht, von der Kulturfabrik Kampnagel in Hamburg bis zum | |
Schauspielhaus Dortmund. | |
Isaac, sein jüngerer Bruder, ist eine bekannte Größe in der rasant | |
wachsenden Afro-Dance-Szene, in der weiche, rhythmisch fließende Bewegungen | |
dominieren. Er ist: „The Afrogiant“. | |
Und Dennis, 23, der Jüngste der drei, wurde zuletzt Europameister im | |
Litefeet, einer neueren Richtung des Hip-Hop, in der die Füße der Tänzer | |
leicht und schwerelos scheinen. | |
Ihre „Realness“ macht die Crew aus. Denn Authentizität und echte | |
Erzählungen vom eigenen Leben und sozialen Missständen wurden im HipHop | |
ursprünglich mal großgeschrieben. Der Kommerz kam erst später dazu. | |
Die drei Brüder verkörpern viel von diesen Ursprüngen des HipHops: | |
Aufgewachsen in Neukölln, einer Gegend, in der das Geld oft knapp ist, die | |
Möglichkeiten oft begrenzt, aber Frust, angestaute Energie und kreatives | |
Potenzial riesig sind. „Ohne den Jugendclub hätten wir nicht tanzen | |
gelernt“, sagt Prince. Nur Kinder mit Kohle hätten in den teuren Studios | |
tanzen können. | |
## Tanz als Sprache | |
Viele von diesen Kindern ohne Kohle sind auch heute hier in der „Session“ | |
im Jugendzentrum. | |
Tanz wurde für Prince früh die Sprache, in der er sich ausdrücken konnte. | |
Besser als in seinem anfangs brüchigen Deutsch. | |
Mit 14 fragte er einen Sozialarbeiter zum ersten Mal nach dem Raum mit der | |
verlockenden Aufschrift „Tanzraum“. Er war erst vor einem Jahr aus Ghana | |
nach Deutschland gezogen, zu seinen Brüdern Isaac und Dennis und der | |
gemeinsamen Mutter mit ihrem Mann. Die Antwort war eine Gegenfrage: „Du | |
willst tanzen?“ Prince wollte. | |
Ab diesem Zeitpunkt fragt er täglich nach dem Schlüssel zum Raum, immer | |
wenn die Schule aus ist. Dort findet er nur schlecht Anschluss, die Sprache | |
überfordert ihn, er hat Ärger mit den Mitschülern, wird rassistisch | |
beschimpft, immer wieder suspendiert. | |
Er ist frustiert, sucht nach Ablenkung und findet Anerkennung in der | |
HipHop-Community, seine kraftvolle und spezielle Art zu tanzen, kommt dort | |
gut an. Schon bald fragt ihn der damalige Leiter des Jugendzentrums, ob er | |
nicht als Honorarkraft HipHop-Tanz unterrichten möchte. „Ich glaube, meine | |
Disziplin gefiel ihm“, sagt Prince, „jeden Tag in den Jugendclub kommen, | |
Musik anmachen, für mich allein tanzen.“ | |
## Wunden heilen | |
Die Familie kam nicht wirklich freiwillig nach Berlin. Ihre erste Station | |
in Deutschland war Duisburg. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter zog der | |
nun alleinerziehende Vater von drei Jungs nach Berlin. Er brauchte einen | |
Neuanfang. Sie lebten, wie so viele in Neukölln, von Sozialleistungen. Laut | |
Isaac kamen sie „in der Hoffnung, dass Berlin unsere Wunden heilen könnte“. | |
Prince macht mit Ach und Krach seinen Hauptschulabschluss, wird in Neukölln | |
aber Teil einer „Crew“, einer HipHop-Gruppe. Nebenbei tritt er bei | |
Meisterschaften an, wird zu einem berüchtigten Battle-Tänzer, duelliert | |
sich tänzerisch mit den Größen der Szene Berlins. Schnell ist er das große | |
Vorbild der jüngeren Brüder: Isaac will alles von ihm lernen. Der noch | |
jüngere Dennis ist schon Stammgast im Jugendzentrum Grenzallee, da ist er | |
gerade einmal fünf Jahre alt. | |
Eine magische Zeit beginnt, in der Prince seine Brüder und viele andere | |
Kids aus dem Viertel im HipHop trainiert. Jeden Tag sind sie da, manchmal | |
auch noch am Abend, 30 Leute kommen mitunter. Prince legt Wert auf | |
Disziplin, lässt sie viele Runden um den Jugendclub joggen, während er oben | |
auf der Treppe steht und eine Zigarette raucht. „Es flossen Schweiß, Blut | |
und Tränen.“ | |
Prince beschreibt die Dynamik als wirkliches „Multikulti“, es sei | |
„Integration auf höchstem Niveau“. Die kommenden Meisterschaften und | |
Battles sind das Ziel, auf das sie hinarbeiten, alle, „egal was du vorher | |
gemacht hast oder woher du kamst“. Sie haben da gar keine Zeit, auf die | |
schiefe Bahn zu geraten. | |
„Der Jugendclub Grenzallee hat schon lange einen Fokus auf HipHop-Kultur | |
als Mittel für die Jugendarbeit“, sagt die Leiterin, Jana | |
Krystlik-Einberger. Man kann neben den Tanzräumen im kleinen eigenen | |
Tonstudio auch selbst Musik machen. Finanziert wird die Einrichtung vom | |
Jugendamt Neukölln aus Töpfen zur Jugendförderung. Alle Honorarkräfte, die | |
hier arbeiten, kommen selbst aus Neukölln, kennen das Viertel, die Menschen | |
und ihre Geschichten. Sie sind Vorbilder für jüngere Kids, sollen zeigen, | |
wie sie sich Respekt in der Gemeinschaft erarbeitet haben, ohne dabei | |
kriminell zu sein. Das Haus funktioniere für viele wie ein „Türöffner“, | |
sagt die Leiterin des Jugendzentrums. Und räumt zugleich ein, dass nicht | |
alle Jugendlichen eine solche Passion entwickeln würden wie die „M.I.K“s im | |
HipHop. | |
Als 2006 die Deutsche Meisterschaft im Krump ansteht, schlägt die | |
Geburtsstunde der „M.I.K. Family“. Prince krumpt schon länger. Der Stil ist | |
in den afroamerikanischen Gemeinden von Los Angeles entstanden, die Tänzer | |
erzählen Geschichten mit ihren Körpern. Dabei geht es weniger darum, eine | |
besonders saubere Show zu liefern, als darum, sich in einen erregten | |
emotionalen Zustand zu tanzen, „buck“ oder „raw“ zu sein, so heißt das… | |
HipHop-Jargon. | |
Isaac hat bis dahin nie auf einer Bühne getanzt. Er ist nervös, denn zu der | |
Meisterschaft kommen auch internationale Tänzer. Am Ende gewinnen die | |
Brüder als absolute Underdogs ein Battle nach dem anderen, können es kaum | |
fassen, bis sie zu den überraschenden Siegern gekürt werden. Ein Name ist | |
gefunden: die Berliner „Monsters In Krump“. | |
Ab jetzt geht es für die Crew nur noch nach vorne, „wir hatten Blut | |
geleckt“, wie Isaac sagt. Weitere Mitglieder stoßen dazu, heute sind sie zu | |
siebt. Sie fangen an, zu Wettbewerben zu reisen. Einmal stecken sie ihre | |
letzten 80 Euro in eine Tankfüllung nach Belgien, schlafen auf den | |
Bahnhofstreppen und halten „Sessions“ ab, damit ihnen nicht kalt wird. Sie | |
wissen: Ohne das Preisgeld gibt es keine Tankfüllung für den Rückweg. | |
Sie gewinnen. Mit 1.000 Euro in der Tasche erreichen sie Berlin wieder. Es | |
kam ihnen wie ein Vermögen vor. „Das ging fast fünf Jahre so. Von Battle zu | |
Battle, immer in der Hoffnung, dass sich was daraus ergeben könnte, wenn | |
man bekannter wird“, erinnert sich Prince. | |
Und tatsächlich, es ergeben sich die ersten kommerziellen Jobs. Musiker | |
werden auf sie aufmerksam. Videodrehs für Culcha Candela, Samy Deluxe, Max | |
Herre stehen an. Prince bekommt den ersten Job beim Berliner Theater Hebbel | |
am Ufer. 2013 werden sie Finalisten bei der ProSieben-Show „Got To Dance“. | |
Über all die Jahre kommen sie weiter ins Jugendzentrum Grenzallee, auch | |
wenn die Jobs immer größer werden. Isaac und Dennis gehen außerdem neben | |
all dem Tanzen noch zur Schule. Vaterfigur Prince ist da entschlossen: | |
„Bildung ist bei uns das A und O.“ Weil seine Schullaufbahn so eine | |
Katastrophe war, sollen die jüngeren „M.I.K“s in beidem bestehen, auf der | |
Bühne und der Schulbank. Isaac machte Abi und hat studiert. Er ist | |
mittlerweile Wirtschaftsingenieur. | |
„Ganz ehrlich“, sagt Isaac, „wenn man als Dunkelhäutiger schulisch nichts | |
vorzuweisen hat, ist man für viele nichts in Deutschland.“ Er lebt in dem | |
Zwiespalt, professionell vom Tanzen leben zu wollen und gleichzeitig ein | |
anspruchsvolles Studium zu meistern. Was er im Studium lernt, kann er nun | |
in die „M.I.K“-Familie einbringen. | |
## Schweiß in der Luft | |
Auch die anderen „M.I.K.“s haben studiert oder sind noch dabei. Sie wollen | |
ihr gesammeltes Wissen nutzen, um sich erfolgreicher selbst zu vermarkten. | |
Denn „M.I.K.“s tanzen nicht nur, sie veranstalten Workshops, eigene | |
Tanzkurse, Partys, wie die offizielle Afterparty des Karnevals der | |
Kulturen, und ein eigenes Tanzfestival „Culture Dance Clash“, das jetzt | |
wegen Corona erst mal verschoben wurde. Dennis modelt nebenbei, spielt in | |
dem Kinofilm „Into the Beat“ mit, der im Sommer 2020 erscheinen soll. Ihre | |
Zehntausende Follower auf Instagram sind auch ein großes Publikum, dem sie | |
regelmäßig neue Videos und Moves präsentieren, auch aus den Räumen des | |
Jugendzentrums. | |
Dort hängt im Raum noch immer der Schweiß in der Luft, es ist mittlerweile | |
kurz vor Mitternacht. Die Musik wird abrupt ausgestellt. Die heutige | |
Session ist vorbei. Oft muss Prince die letzten noch rausschmeißen. Morgen | |
geht es für viele zurück in die „echte“ Welt. Schule, Jobs, Ausbildung, | |
Corona. | |
Trotzdem: Die „M.I.K.“s tanzen weiter. Jetzt halt erst mal vor allem zu | |
Hause. Wenn das alles vorbei ist, dann findet man sie, egal wer anfragt | |
oder bucht, im Jugendclub in Neukölln. Prince sagt: „Am Ende werden die | |
Menschen nach dem Echten suchen, und dann kommen sie bei uns an.“ | |
27 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Judith Rieping | |
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