# taz.de -- Die Wahrheit: Schlagwort-Schlagsahne | |
> Auf der Suche nach der verlorenen Zeile. Eine Hommage an die | |
> Titelzeilenredakteure alter Enzyklopädien und Wörterbücher. | |
Bild: Typischer Titelzeilenredakteur bei der stillen Arbeit | |
In den entschleunigten Zeiten von Corona wird mancher das verstaubte | |
Lexikon seiner Jugendjahre wieder in die Hand nehmen und gedankenverloren | |
darin blättern. Zunächst fällt dabei das Auge auf die effekthascherischen | |
Überschriften im Kopf der Buchseite: „Tohuwabohu-Tollkirsche“ oder | |
„Atomenergie-Aufgußtierchen“ zum Beispiel. | |
Für diese Überschriften waren eigene Schlagwort-Lektoren zuständig, die im | |
Hause Brockhaus, Bertelsmann und Meyer hochgeachtet und niedrig bezahlt | |
waren. Ihre Schlagworte entschieden darüber, ob die Seite gelesen wurde | |
oder ob der Leser hastig weiterblätterte. Denn damals in der analog | |
entschleunigten Vorzeit des gebundenen Lexikons blätterte man in Mußezeiten | |
noch gern in den teuren Werken, die damals als Anschaffungen fürs Leben | |
galten. Besonders gern schlug man die vielversprechenden Seiten auf, die | |
mit „Bibliotheken-Bier“, „Darmkatarrh-Delirium“ oder „Abruzzen-Abschu… | |
lockten. | |
War man allein zu Haus, wurde mit heißem Atem Skandalöses aufgeblättert: | |
Ob „Beelzebub-Befruchtung“, „Gemächt-Gemäldegalerie“ oder | |
Geschlechtsreife-Geschütz, Sexuelles lag in der Lesepräferenz eindeutig | |
vorne. Wen wundert es da, dass viele dieser anzüglichen Lexika-Lektoren von | |
der Boulevard-Presse abgeworben wurden und fortan für ihre Schlagworte ein | |
besser bezahltes Leben führten? | |
Poetischere Kollegen blieben und führten das Werk der Titelzeilen besonnen | |
und nachdenklich weiter: „Vormundschaft-Wachtel“, „Putziger | |
Nehrung-Quantentheorie“ oder „Haarbalgmilbe-Habeaskorpusakte“. Ungeniert | |
lebten die Titelzeilenredakteure ihre persönlichen Abneigungen aus: | |
„Roon-Rotschwänzchen“ dürfte dem preußischen Feldmarschall kaum gefallen | |
haben, „Epiktet-Erbrechen“ dem griechischen Philosophen auch nicht. Und | |
auch vor „Zuckmayer-Zuhälter“ schreckte man nicht zurück! | |
## Amnestie-Anarchismus | |
Noch Überraschenderes fehlt nicht: Sollte auf der Seite | |
„Amnestie-Anarchismus“ etwa Sympathie für die Revolutionäre anklingen? | |
Andere werden unangemessen über den grünen Klee gelobt. Vorneweg | |
„Goldpurpur-Goethe“, „Hegel-Heiliges Grab“ oder gar „Gelobtes | |
Land-Gelsenkirchen“! Ein zweifelhaftes Kunstverständnis hingegen schimmert | |
in der „Rohrkolben-Romantik“ durch. „Brückner-Brunst“ und „Kümmel-K… | |
sind gut gereimt und schlecht gemeint. | |
Überraschend aktuell und nachgerade seherisch liest sich in Coronazeiten | |
„Hamster-Handelspolitik“ und „Individualismus-Infektionskrankheiten“. A… | |
natürlich sind auch Schwachpunkte in der Galerie der Titelschlagworte zu | |
finden: „Gähnkrampf-Gailenreuther Höhle“ beispielsweise. Dann lieber | |
Verschwörungstheoretisches wie die „Ammoniten-Amtsanmaßung“ oder „Flieg… | |
Untertassen-Flösselhechte“. Hauptsache, „Banause-Bann“. | |
Doch irgendwann war schließlich die „Berufsgeheimnis-Beschimpfung“ zu Ende. | |
Vermutlich machte die „Scherende Flechte-Schicksalstragödie“ den | |
Titelzeilenredakteuren der alten Lexika den Garaus, da half kein | |
„Bandwurm-Balsam“! Und die „Zahnersatz-Zeche“, wer zahlte die? Vermutli… | |
der kleine Bertelsmann. | |
24 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Kriki | |
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