| # taz.de -- Auf einer Intensivstation in Bergamo: Nummer 6 stirbt | |
| > In der Klinik San Pietro spielen sich täglich neue Dramen ab. Menschen | |
| > ringen um Luft, ihre Angehörigen dürfen nicht zu ihnen, nicht einmal am | |
| > Ende. | |
| Bild: Auch das Krankenhaus Papst Johannes XXIII. in Bergamo ist über seine Kap… | |
| Neun durchsichtige Säcke liegen in einer Ecke der in aller Eile | |
| hergerichteten Intensivstation, sie sind kaum zu unterscheiden von dem noch | |
| verpackten Equipment. Erst bei näherem Hingucken erkennt man ein paar | |
| Nike-Laufschuhe, ein Twix, eine Armbanduhr. Sie gehören den Patienten, die | |
| hier liegen. Ein weiterer Sack wurde eben gerade dem Bestattungsunternehmen | |
| übergeben. Da Trauerfeiern derzeit ausgesetzt sind, ist das alles, was die | |
| Familien von ihren Angehörigen zu sehen bekommen. | |
| In Bergamo stirbt man alleine. Und alleine wird man beerdigt, während ein | |
| Priester den Sarg segnet, auf dem ein Handy liegt, damit die Familie | |
| zuhören kann. | |
| Bis zum 10. März war die Poliklinik San Pietro in Bergamo auf etwas ganz | |
| anderes spezialisiert: auf künstliche Befruchtung. Wie in vielen | |
| Krankenhäusern gab es hier keine Abteilung für Infektionskrankheiten. Jetzt | |
| sind alle 254 Betten mit Covid-19-Kranken belegt. Und aus den vier Betten | |
| der Intensivmedizin sind zehn geworden. Der Bereich, der früher für die | |
| besonders kritischen Fälle reserviert war, ist nun den Gesünderen | |
| vorbehalten: denen mit den besten Überlebenschancen. | |
| Von den zehn Patienten ist nur einer wach. Elend sieht er aus, unrasiert, | |
| mit müdem Blick, leicht zur Seite gedreht, die Arme über Kreuz. Die anderen | |
| haben die Augen geöffnet, zeigen aber keine Regung. Mit seinen unzähligen | |
| Bildschirmen und Lichtern gleicht der Raum einem Raumschiff; doch so | |
| ausgefeilt die Technologie ist, hier kommt es gerade nicht auf die | |
| Wissenschaft, sondern auf die Natur an. Es gibt keine mehr oder weniger | |
| wirksamen Medikamente, sondern nur mehr oder weniger starke Immunsysteme. | |
| Den Glücklichen, die auf der Intensivstation sein dürfen, wird nichts | |
| anderes als Sauerstoff verabreicht – und ab einem bestimmten Moment | |
| Morphium. | |
| ## Der Chefarzt ist selbst Corona-erkrankt | |
| Der Arzt Bruno Balicco war eigentlich schon in Pension. Nun ersetzt der | |
| 69-Jährige den Chefarzt, der Corona-erkrankt zu Hause liegt. „Die vielen | |
| Toten sind auch eine Folge der Anweisung, im Krankheitsfall so lange wie | |
| möglich zu Hause zu bleiben und den Notruf nur dann zu wählen, wenn man | |
| kaum noch Luft kriegt“, sagt Balicco. Eine Anordnung, die unumgänglich | |
| scheint, weil die Krankenhäuser überbelegt sind. Und weil es schon so viele | |
| Särge gibt, dass das Militär ihren Abtransport übernehmen musste. | |
| „So treffen die Kranken hier völlig am Ende ihrer Kräfte ein“, sagt | |
| Balicco, „ihre Lunge ist dann bereits stark geschädigt.“ Wie bei Patient | |
| Nummer 6, der trotz Beatmungsgerät verzweifelt nach Luft ringt. Der Mann | |
| hatte seit drei Wochen Fieber. 67 Jahre alt, keine Vorerkrankung. Links von | |
| ihm zeigt ein Monitor seine Herzfrequenz an, Blutdruck, Temperatur und die | |
| Sauerstoffsättigung im Blut. Jetzt, wo Verwandte nicht zu Besuch kommen | |
| dürfen, ist das alles, was man von einem Leben weiß: Zahlen, Diagramme, | |
| Prozentangaben. Im Regal, neben zwei Medizinfläschchen, liegt ein Blatt mit | |
| vielen Tabellen. Kein Name, nichts. Dafür war keine Zeit. | |
| Plötzlich bäumt sich der Körper von Patient 6 auf. Ein rotes Licht geht an. | |
| Eine Krankenpflegerin kommt herbeigeeilt, hantiert so lange herum, bis das | |
| Licht ausgeht. Nach ein paar Minuten blinkt ein anderes Lämpchen auf. | |
| Die Zustände in den Krankenhäusern sind mindestens so furchterregend wie | |
| das Virus selbst: Oft sind sie die ersten Brutstätten. 51 Ärzte sind | |
| bereits gestorben, Tausende sind infiziert, und auch im San Pietro sind es | |
| etwa 20 Prozent des Personals. Viele werden wieder gesund werden, wie auch | |
| viele der Patienten hier. Aber auch in dieser Hinsicht ist diese Epidemie | |
| eine komplizierte Angelegenheit. Alle Kranken haben das gleiche Virus, sagt | |
| Bruno Balicco, und trotzdem ist jeder Fall verschieden. „Der Verlauf | |
| variiert. Und so schlagen auch die Medikamente verschieden an“, sagt er, | |
| „Es ist niederschmetternd: Entlässt man einen Patienten, kommt der nächste. | |
| Und im Grunde fängt man wieder bei null an.“ | |
| ## Ein kleines Provinzkrankenhaus an vorderster Front | |
| Balicco wirkt sehr erschöpft, wie alle hier, Ärzteschaft und | |
| Pflegepersonal. Seit ihnen Anfang Februar die ersten atypischen | |
| Lungenentzündungen untergekommen sind, ging alles furchtbar schnell. An | |
| einem Tag war es ein Kranker, und am nächsten waren es schon zehn. | |
| Eigentlich ein kleines Provinzkrankenhaus, findet sich das San Pietro | |
| plötzlich an vorderster Front wieder. Die Tabletten zerkleinern sie mit dem | |
| Fleischwolf von zu Hause, weil der Pillenzerteiler sich wer weiß wo | |
| befindet, irgendwo zwischen den noch ungeöffneten Kisten. | |
| Fragt man Silvia Vanalli, Leiterin des Pflegeteams und 46 Jahre alt, ob | |
| manche vielleicht vom Dienst abgesprungen seien, versteht sie die Frage | |
| nicht. Ob man einen Augenarzt denn verpflichten könnte, mit Infizierten zu | |
| arbeiten? Es wäre doch sein gutes Recht, nicht zu kommen? „Nicht zu | |
| kommen?“, fragt sie. „Wohin nicht zu kommen?“ | |
| Niemandem sei das in den Kopf gekommen. „Egal welche Spezialisierung ein | |
| Arzt hat“, sagt Vanalli. „Er ist in erster Linie Arzt. Und tut alles, was | |
| er tun kann.“ Auch wenn alles, was man geben kann, im Moment nur ein | |
| bisschen Sauerstoff ist. Patient Nummer 6 ringt immer noch nach Luft, | |
| bewegt sich unruhig hin und her. Sein ganzer Körper zittert krampfartig. | |
| Und mit jedem Anfall kippt sein Kopf weiter ab, die Augen öffnen sich weit, | |
| sind verdreht, weiß. | |
| Eine Krankenschwester saugt ihm den Speichel ab, während auf dem Monitor | |
| die blaue Zahl die Sauerstoffsättigung in seinem Blut anzeigt, die bei etwa | |
| 98 liegen müsste und jetzt auf 93 gesunken ist, dann auf 90 heruntergeht, | |
| wieder auf 91 ansteigt. Und erneut abfällt. Trotz Atemmaske und allem | |
| scheint er den Sauerstoff nicht aufzunehmen. | |
| Eine andere Krankenschwester nähert sich. „Ich rufe den Arzt“, sagt sie. | |
| „Ruf die Familie an“, sagt die erste. | |
| ## Todesnachricht am Telefon | |
| Auch in normalen Zeiten kehren 25 Prozent der Patienten von der | |
| Intensivstation nicht wieder nach Hause zurück. Deswegen ist hier die | |
| Beziehung zu den Angehörigen besonders wichtig: Es gilt auch denen zu | |
| helfen, die am Leben bleiben. Hatten sie vor Corona in der Regel die | |
| Möglichkeit zu zwei Besuchen am Tag, reduziert sich jetzt oft alles auf | |
| zwei Telefonate in der gesamten Zeit: ein Anruf, wenn es so weit ist, dass | |
| Morphium eingesetzt wird, und ein weiterer, der die Familie informiert, | |
| dass sie das Bestattungsunternehmen rufen soll. | |
| Eben haben sie die Tochter der 70-jährigen Frau erreicht, die gestern hier | |
| gestorben ist. Sie haben versucht, den Ehemann zu finden, doch der liegt | |
| mittlerweile selbst im Krankenhaus. „Ich komme sofort“, sagt die Tochter. | |
| Silvia Vanalli verstummt für einen Moment. „Nein“, sagt sie, „Nein, das | |
| geht nicht. Nicht einmal jetzt.“ Ihre Stimme fällt zusammen. „Wir haben | |
| alles versucht. Alles. Bis zum Schluss“, sagt sie. „Mit ihrer Hand in | |
| meiner. Als … als wäre es Ihre gewesen, ich schwöre es. Als wäre es Ihre | |
| Hand …“ | |
| Mit jedem Wort scheint sie ein bisschen mehr in ihrem weißen Schutzanzug | |
| vom Typ Tschernobyl zu verschwinden, auf dem mit Filzstift ihr Name | |
| geschrieben steht, damit man sie nicht verwechseln kann. Denn der Virus | |
| macht alle gleich hier, alle gleich alleine, mit einem Meter Abstand vom | |
| einen zum anderen. „Und jetzt“, fragt die Tochter. „Was mache ich jetzt?�… | |
| „Sie sollten sich um das Bestattungsunternehmen kümmern“, sagt Vanalli und | |
| bleibt schluchzend stehen, das Telefon hat sie noch in der Hand. | |
| ## Die Betriebe arbeiten weiter | |
| Ärzt:innen und Krankenpfleger:innen sind die neuen Helden Italiens. Täglich | |
| werden sie auf den Titelseiten der Zeitungen gefeiert. Aber in Wirklichkeit | |
| ist ihre Welt weit weg. Denn draußen ist weiterhin 30 Prozent der Industrie | |
| der Region Lombardei in Betrieb, arbeiten insgesamt noch rund 70 Prozent | |
| der dort Beschäftigten. Für viele hat die Wirtschaft Vorrang. Theoretisch | |
| ist während des Lockdowns [1][nur die Produktion von lebenswichtigen Gütern | |
| erlaubt] und solchen, die die Produktionskette der lebenswichtigen Güter | |
| aufrechterhalten. Tatsächlich aber arbeiten selbst die Marinewerften im | |
| Hafen von Taranto weiter, die der Wartung von Flugzeugträgern dienen. | |
| Die Nationale Gesundheitsbehörde hatte bereits am 2. März dringend | |
| angeraten, die Stadt und die Provinz Bergamo zur roten Zone zu erklären. | |
| Aber damals engagierte sich Bürgermeister Giorgio Gori noch in der Kampagne | |
| „Bergamo macht nicht dicht“. | |
| Bergamo machte nicht dicht, heute sind hier täglich etwa 50 Tote zu | |
| beklagen. Auch Armani fährt weiter die volle Produktion, dort stellen sie | |
| jetzt medizinische Kleidung her, Wegwerfkittel. | |
| Während der Rest des Landes Backrezepte und Tipps gegen die Langeweile | |
| austauscht, herrschen in der Lombardei kriegsähnliche Zustände. Und sie | |
| bringen die Schuldgefühle mit sich, mit denen alle Veteranen leben müssen: | |
| den Krieg mit sich herumzutragen und auch diejenigen da hineinzuziehen, die | |
| man liebt. „Zu Hause rede ich mit meinem Lebensgefährten nur durch die | |
| Tür“, sagte eine der Krankenschwestern auf der Intensivstation des San | |
| Pietro. „Aber wenn es geht, rede ich lieber gar nicht. Hier im Krankenhaus | |
| riskiere ich alles für mir unbekannte Menschen und zu Hause lasse ich | |
| diejenigen allein, die mich nie hängen gelassen haben.“ | |
| ## Die roten Lichter blinken weiter | |
| Sie hält inne. Statt weiterzusprechen, bereitet sie eine Spritze vor und | |
| wendet sich Patient Nummer 6 zu, der noch immer nach Luft ringt, sich | |
| sichtlich aufregt. | |
| „Ruhig“, sagt sie, aber die roten Lichter blinken weiter, und die blaue | |
| Zahl fällt weiter ab. Mit jedem neuen Krampf scheint sich der Mann von | |
| seinen Schläuchen befreien zu wollen – als wären sie nicht ausreichend. In | |
| einem Augenwinkel scheinen Tränen zu stehen. Oder ist es nur ein Reflex? | |
| Wer ist er? Wo kommt er her? Was hat er sonst im Leben gemacht? Welcher | |
| Sack im Eingangsbereich gehört ihm? Der mit den Nikes? Wen hinterlässt er? | |
| Wie viel versteht er von dem, was um ihn herum vor sich geht? Wie viel hört | |
| er? Wie viel sehen diese Augen, die ihr Gegenüber anzuschauen scheinen? | |
| „Ganz ruhig“, sagt die Krankenpflegerin. „Ganz ruhig.“ Ihre Stimme geht | |
| immer mehr in Flüstern über, während sie ihm die Tränen trocknet und ihn | |
| sanft streichelt. Erst als er sich nicht mehr rührt, bringt sie ihn hinaus. | |
| Aus dem Italienischen von Sabine Seifert | |
| 3 Apr 2020 | |
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| Francesca Borri | |
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