# taz.de -- Strategiepapier des Innenministeriums: Schockwirkung erwünscht | |
> Im Kampf gegen Corona setzt das Ministerium Horst Seehofers auf | |
> Massentests und Tracking. Und auf eine härtere Kommunikationsstrategie. | |
Bild: „Einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie“: davor warn… | |
BERLIN taz | Es ist ein Dokument von erstaunlicher Klarheit: In einem | |
vertraulichen Strategiepapier hat das Bundesinnenministerium mögliche | |
Szenarien zum Verlauf der Corona-Epidemie sowie die angestrebten | |
Gegenmaßnahmen und die damit verbundene Kommunkationsstrategie dargestellt. | |
Das 17-seitige Papier, über das zuerst der Rechercheverbund aus | |
Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR berichtet hatte und das der taz vorliegt, | |
drängt dabei neben einer starken Ausweitung der Corona-Tests und der | |
Erhöhung der Zahl von Intensivbetten auch auf eine veränderte | |
Kommunikationsstrategie. | |
Das von Horst Seehofer (CSU) geleitete Ministerium bestätigte am Freitag | |
die Existenz des Papiers, wollte es aber nicht kommentieren, weil es „nicht | |
für die Öffentlichkeit bestimmt“ sei. | |
Zum Verlauf der Epidemie vergleicht das Ministerium drei Szenarien. Das | |
„Worst Case“-Szenario geht davon aus, das sich die Verdopplungszeit der | |
Infiziertenzahl von anfangs 3 Tagen bis Mitte April auf 6 Tage und bis Ende | |
April auf 9 Tage verlängert (aktuell liegt sie [1][bei knapp 5 Tagen]). In | |
diesem Fall würden bis Ende Mai etwa 70 Prozent der Bevölkerung infiziert | |
gewesen sein. Bis zu 350.000 Menschen würden gleichzeitig | |
intensivmedizinische Versorgung benötigen – was angesichts der vorhandenen | |
Kapazitäten bedeuten würde, dass 85 Prozent derjenigen, die sie brauchen, | |
abgewiesen werden müssten. | |
In diesem Szenario würden innerhalb von zwei Monaten knapp 1,2 Millionen | |
Menschen durch das Corona-Virus sterben. Das Innenministerium geht dabei | |
aufgrund von Hochrechnungen aus anderen Ländern von einer | |
Sterblichkeitsrate von 1,2 Prozent aus, sofern eine ausreichende | |
Krankenhausversorgung gewährleistet ist; Zu Zeiten, in denen die | |
Kapazitäten nicht ausreichen, wird eine Sterblichkeit von 2 Prozent | |
angenommen. Diese Werte sind deutlich höher als in einem Szenario des | |
Robert-Koch-Instituts vom 20. März: Dies ging von einer Sterblichkeit von | |
0,56 Prozent aus, erklärte dazu aber, dass dieser Wert „eher am unteren | |
Rand bestehender Schätzungen“ liege. | |
In einem als „Dehnung“ bezeichneten Szenario wird davon ausgegangen, dass | |
die Verdopplungszeit der Infiziertenzahl durch schärfere Maßnahmen zur | |
Verringerung physischer Kontakte schon bis Anfang April auf 6 Tage und bis | |
Mitte April auf 9 Tage steigt. In diesem Fall würden nur etwa 20 Prozent | |
der Bevölkerung infiziert. Der Bedarf an Intensivbetten würde dabei die | |
Kapazität nur geringfügig überschreiten, so dass nur 16 Prozent der | |
Patienten abgewiesen werden müssten. In diesem Szenario würden nur etwa | |
220.000 Menschen sterben. Allerdings müsste der Ausnahmezustand mit | |
weitgehenden Kontaktbeschränkungen dabei rund 7 Monate andauern. | |
Das dritte Szenario trägt den Namen „Hammer and Dance“, offenbar in | |
Anlehnung an einen [2][viel zitierten Artikel] über Eindämmungsstrategien | |
zur Corona-Epidemie. Dieses geht davon aus, dass zusätzlich zur | |
Verlängerung der Verdopplungszeit anschließend die Ausbreitung des Virus | |
durch umfangreiches Testen und Isolieren von Infizierten stark verringert | |
werden kann. Dadurch sinkt die Zahl der Infizierten auf insgesamt rund 1 | |
Million und die der Toten auf 12.000. | |
## Ausgangsbeschränkungen bis mindestens Ende April | |
Um das zu erreichen, müsse die Zahl der Corona-Tests schnell und massiv | |
erhöht werden. „Getestet werden sollten sowohl Personen mit Eigenverdacht | |
als auch der gesamte Kreis der Kontaktpersonen von positiv getesteten | |
Personen“, heißt es im Papier. Zum Ermitteln von Personen, die mit einem | |
Infizierten in Kontakt waren, will das Innenministerium auch Handy-Daten | |
nutzen: „Um das Testen schneller und effizienter zu machen, ist | |
längerfristig der Einsatz von Big Data und [3][Location Tracking] | |
unumgänglich.“ Alle positiv getesteten Personen müssten dann isoliert | |
werden, „zu Hause oder in einer Quarantäneanlage“. | |
Wenn diese Testkapazitäten schnell gesteigert würden, könnten die | |
allgemeinen Ausgangsbeschränkungen ab 20. April schrittweise gelockert | |
werden – was aus Sicht des Innenministeriums auch erforderlich ist. „Eine | |
längere Periode der Ausgangsbeschränkungen ist weder wirtschaftlich noch | |
sozial aufrecht zu erhalten“, heißt es. | |
Neben den Strategien zur Eindämmung der Epidemie beschäftigt sich das | |
Papier auch ausführlich mit der politischen Krisenkommunikation – und | |
drängt darauf, die Gefahren stärker zu betonen als bisher geschehen. „Wir | |
müssen wegkommen von einer Kommunikation, die auf die | |
Fallsterblichkeitsrate zentriert ist“, schreiben die Autoren. Diese habe | |
jungen und gesunden Menschen bisher den Eindruck vermittelt, dass sie | |
selbst kaum betroffen seien. | |
## Folgeschäden auch für junge Menschen | |
Das ist aus Sicht den Innenministeriums aber nicht der Fall. Zum einen | |
drohten auch bei jungen Menschen Folgeschäden wie eine reduzierte | |
Lungenkapazität. Zum anderen würden – zumindest in den negativeren | |
Szenarien – die Folgen im Familienumfeld unmittelbar spürbar. „Viele | |
Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht aber | |
abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause“, warnt das | |
Papier – und fordert: „Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen | |
die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche | |
Gesellschaft verdeutlicht werden.“ | |
Neben den gesundheitlichen Folgen warnt das Innenministerium zudem in | |
drastischen Worten vor den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. | |
Im günstigsten Fall einer schnellen Eindämmung und Kontrolle der weiteren | |
Ausbreitung würde das Bruttoinlandsprodukt nur um 4 Prozent sinken. Im | |
schlimmsten Fall sei ein Einbruch um 32 Prozent denkbar. Was das bedeuten | |
könnte, umschreibt das Papier so: „Es droht, dass dies die Gemeinschaft in | |
einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert.“ | |
28 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Coronaepidemie-in-Deutschland/!5674942 | |
[2] https://medium.com/@tomaspueyo/coronavirus-the-hammer-and-the-dance-be93370… | |
[3] /Corona-in-China/!5668754 | |
## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
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