Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kleinunternehmen in der Not: Individualität ist systemrelevant
> Manche Kleinunternehmer fallen bei den Rettungspaketen durchs Raster.
> Krisen-Gewinner könnten Systemgastronomie und Ketten sein.
Bild: Nur noch ein Schatten auf dem Restauranttisch, keine Gäste mehr
Hamburg taz | Sie betreibt ihre Kneipe seit 18 Jahren. Früher ging es hier
um Bier und Fußball, inzwischen hat sie einen festen Platz im Leben des
lebendigen Hamburger Stadtteils. 15 Beschäftigte in Voll- und Teilzeit
versorgen die Gäste mit einfachen, aber hochwertigen Gerichten, ganz billig
ist es nicht, aber gut. Früher saßen hier Pärchen in den Ecken oder im
ersten Stock, an den größeren Tischen trafen sich Freundinnen und Nachbarn
zum Teil seit vielen Jahren. Die Kneipenchefin Ina Haller (Name geändert)
veranstaltete Lesungen und Ausstellungen – nicht weil das etwas einbringt,
es ist ihre Leidenschaft.
Jetzt sieht es nicht mehr gut aus für diesen Ort der Begegnung und des
Gesprächs. Der [1][Umsatz im März ist eingebrochen], 16.000 statt 46.000
Euro, für April und Mai ist mit Komplettausfall zu rechnen. Die Fixkosten
liegen bei 10.000 Euro monatlich, ohne Löhne. Rücklagen sind nicht
vorhanden, dafür war das Konzept bisher schon zu knapp auf Kante genäht.
Die große Frage ist: [2][Rettet sie der Staat?] Wie geht der lebendige
Stadtteil mit seinen Gaststätten, Buchläden, Nähereien, Ballettschulen,
Möbelgeschäften, aus der Krise hervor? Was wird aus all den Unternehmen,
die auf der Grenzlinie zwischen Kreativität, Originalität und Rentabilität
balancieren?
Am Montag hat Ina Haller einen Antrag auf „Corona-Soforthilfe“ gestellt.
Für Unternehmen mit bis zu 10 Beschäftigten beträgt das staatliche
Hilfsgeld 20.000 Euro, 5.000 davon steuert die Stadt Hamburg bei.
Zurückgezahlt werden muss es nicht. Das hilft bis Anfang Mai. Dann müsste
sie einen Kredit aufnehmen. Mit den zinslosen Coronakrediten der
staatlichen KFW-Bank kann sie dabei nicht rechnen, bei der dafür
notwendigen „Bonitätsprüfung“ hat sie keine Chance. Die letzte Renovierung
ist noch nicht abbezahlt, Anfang des Jahres musste sie 7.000 Euro für die
vom Finanzamt vorgeschriebene neue Kasse aufbringen, die die Steuerdaten
direkt übermittelt, die alte Kasse steht jetzt im Keller. Anfang Mai wäre
Schluss.
## Weniger betriebswirtschaftliches Kalkül
In der Krise wird sichtbar, was GaststättenbesucherInnen sonst nicht sehen:
dass die Vielfalt und Originalität ihrer Lieblingsorte weniger auf
betriebswirtschaftlichem Kalkül basiert als auf der Individualität und
Leidenschaft derer, die sie betreiben. Und, natürlich, auf sehr ärmlicher
Bezahlung der Beschäftigten, die in der Krise noch ärmlicher wird – das
Kurzarbeitergeld von 60 Prozent des Nettogehaltes ignoriert die
Trinkgelder, die in der Gastronomie selbstverständlich zum Gehalt gerechnet
werden.
Den meisten, die ihr Geld nicht als Angestellte, sondern als Selbstständige
verdienen möchten, geht es ähnlich. Frisörgeschäfte, Hotels, kleine
Elektronikläden, Start-ups aller Art – alles, was persönlich und originell
ist, nicht Kette, nicht Franchise, nicht zentral gesteuert. Ein Teil der
Wirtschaft übrigens, der seine Steuern garantiert bezahlt. Die Bonität ist
dort sehr begrenzt. Auch das wird in der Krise spürbar.
Das milliardenschwere Hilfspaket der Bundesregierung kann sich sehen
lassen, und die Länder legen weitere Milliarden drauf. Das aktuelle Problem
ist also nicht ein Mangel an Geld – das Problem ist die Geschwindigkeit und
Zielgenauigkeit seiner Verteilung.
Einen einfachen und unbürokratischen Weg geht dabei die Schweiz. Dort
werden zinslose Kredite bis zu 10 Prozent des Jahresumsatzes
beziehungsweise 500.000 Schweizer Franken vom Staat abgesichert und können
deshalb innerhalb weniger Tage ohne Bonitätsprüfung ausgezahlt werden.
Das Verfahren ist hochflexibel – der Staat kann sogar nachträglich noch
entscheiden, größere Anteile der Kredite als Zuschuss zu vergeben. Die
zinslosen Kredite kosten ihn nichts, im Gegenteil, seine Anleihen werden
auf dem Kapitalmarkt mit –0,4 Prozent verzinst. Er macht also Gewinn, der
als Leistungsgebühr an die Banken gehen könnte.
## Vorteil Zeitgewinn
Vorteil bei so einem Vorgehen ist der Zeitgewinn. Der Unternehmensberater
und Payback-Gründer Alexander Rittweger empfiehlt es daher auch für
Deutschland: „Jedes Unternehmen“, schreibt er in einem Gastbeitrag in der
Wirtschaftswoche, „auch das kleinste, kann man mit einem Uhrwerk
vergleichen. Es ist aufgebaut aus verschiedenen Zahnrädern, die
ineinandergreifen. Und wenn jetzt Hunderttausende dieser Unternehmen
pleitegehen, liegen Millionen dieser Zahnräder auf dem Boden. Und keiner
kann diese Uhrwerke wieder zusammensetzen. Mit dramatischen Folgen für
unsere Wirtschaft und unser Zusammenleben.“
Es ginge darum, kleinen und mittleren Unternehmen in der Krise nicht nur
einen begrenzten Zuschuss, sondern ausreichend liquide Mittel zinsfrei zur
Verfügung zu stellen. Die Ina Hallers könnten so planen, auch über den
nächsten Monat hinaus. Und es ginge um ein Signal. Im Moment drohen durch
Corona ein Digitalisierungs-, Zentralisierungs-, Normierungsschub,
weiterer Vormarsch von Systemgastronomie und Modeketten. Dagegen ließe sich
deutlich machen: Auch Individualität ist systemrelevant.
1 Apr 2020
## LINKS
[1] /Ansturm-auf-Hilfen-fuer-Kleinunternehmen/!5675598
[2] /Corona-Hilfen-gigantisch-nachgefragt/!5675099
## AUTOREN
Roland Schaeffer
## TAGS
Schwerpunkt Coronavirus
Unternehmen
Bundesregierung
Datenschutz
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Finanzsenator Matthias Kollatz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Datenschutz bei Corona-Soforthilfe: Wer Geld will, macht sich nackt
Hamburg nutzt eine App, um bei Anträgen auf Soforthilfe die Identität
festzustellen. Private Daten gehen damit an ein Wirtschaftsunternehmen.
Ansturm auf Hilfen für Kleinunternehmen: In der Corona-Warteschleife
Server brechen zusammen, Betrugsversuche, Antragschaos: Der Run auf die
milliardenschweren Soforthilfen ist enorm.
Ladenketten kündigen Mietzahlungsstopp an: Knauserige Konzerne
Deichmann, H&M und Adidas wollen während der Coronakrise keine Miete mehr
für ihre Geschäfte zahlen. Politiker*innen rufen zum Boykott auf.
Corona-Hilfen gigantisch nachgefragt: Berlin baut die Förderung aus
Der Senat will nun bis zu einer Milliarde Euro für Selbstständige und
Unternehmen geben. Zuvor war die Antragsseite zusammen gebrochen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.