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# taz.de -- Abitur in der Coronakrise: Ungeprüft ins Leben?
> Die diesjährigen Abiturient:innen könnten ihr Abitur ohne Prüfungen
> bekommen. Auch wenn sich das viele wünschen, eine gute Idee ist es nicht.
Bild: In Berlin hatten Abiturient:innen ihren letzten Schultag schon
Man muss keine Prüfungsangst haben, um diese Vorstellung richtig auskosten
zu können: sich ein ganzes Schuljahr, ach was, ein halbes Leben lang auf
die [1][alles entscheidenden Prüfungen] vorbereiten – um dann ohne Prüfung
durchgewinkt zu werden. Was nach einer wilden Schüler:innen-Fantasie
klingt, könnte bald Wirklichkeit sein. Denn auch wenn alle Bundesländer
noch offiziell daran festhalten, trotz geschlossener Schulen
Abiturprüfungen abzuhalten, und dies teilweise jetzt schon durchziehen wie
Hessen seit vergangenem Donnerstag: Die Kultusminister:innen spielen
natürlich längst das – aus ihrer Sicht – Worst-Case-Szenario durch. Und d…
lautet: Das Schuljahr muss vorzeitig abgebrochen werden, die
Abschlussprüfungen entfallen.
Was in diesem Fall passiert, hat die Präsidentin der
Kultusministerkonferenz Stefanie Hubig kürzlich im besten Merkeldeutsch
insinuiert: Es werde eine entsprechende Regelung geben, bei der die
gegenseitige Anerkennung unter den Ländern gesichert sei. Niemand werde,
versicherte Hubig, wegen Corona einen Nachteil erleiden. Was wohl so viel
heißen soll wie: Die Schüler:innen erhalten im Ernstfall auch ohne
Abschlussprüfungen ihr Abitur. Am Dienstag Nachmittag dann sprach sich mit
Karin Prien die erste Bildungsministerin für diese Maßnahme aus. Am
Mittwoch soll das Landeskabinett von Schleswig-Holstein über Priens
Vorschlag abstimmen.
Selbst der Deutsche Philologenverband, der in der Vergangenheit vor allem
dadurch auffiel, dass er Jahr um Jahr die immer viel zu guten Abischnitte
geißelte, scheint sich mit dieser Notlösung ganz gut arrangieren zu können.
So hält dessen Vorsitzende Susanne Lin-Klitzing die Abiprüfungen plötzlich
gar nicht mehr für „zwingend“ notwendig, wie sie am Dienstag zur
allgemeinen Überraschung erklärte. Denn die Abiturnote stehe ja bereits vor
den Prüfungen zu zwei Dritteln fest, die Berechnung der Abinote sei also
kein Problem. Wirklich nicht?
Was das Mathematische angeht, mag das stimmen. Wenn man aber die emotionale
Komponente betrachtet: auf keinen Fall. Schon jetzt sind Schüler:innen in
Bayern oder Baden-Württemberg äußerst genervt darüber, dass ihre
Abiprüfungen bis in die zweite Maihälfte verschoben worden sind – während
sie in Hamburg oder Niedersachsen wie geplant stattfinden sollen. In
Rheinland-Pfalz werden übrigens heute schon die allerletzten mündlichen
Prüfungen abgelegt.
## Faire Bewertung wäre schwierig
Jetzt nur mal angenommen, die Abiturprüfungen in München und Stuttgart
fallen aus, während sich die jungen Leute in Hamburg und Hannover nach
jeder bestandenen Prüfung ordentlich abfeiern. Auch wenn die [2][Partys
dann unter etwaigen noch geltenden Kontaktverboten leiden] – man kann sich
ausmalen, wie schal sich im Vergleich dazu ein „geschenktes“ Abitur
anfühlt.
Zumal dann sicherlich sofort die Diskussion um die Vergleichbarkeit der
Leistungen aufflammen dürfte, die schon ohne ausgefallene Abiprüfungen
hitzig genug ist. Schon jetzt berechnet jedes Land die Abinoten anders. Wie
soll man noch fair bewerten können, ob eine 2,0 in Thüringen mit
geschriebenen Prüfungen vergleichbar ist mit einer 2,0 aus Bayern, wo nur
die Leistungen ohne Abiprüfung zählen? Oder anders formuliert: Wenn auch
nur ein Bundesland die Prüfungen absagt – und Hubigs Doktrin des
ausgeschlossenen Nachteils greift –, ist die Kacke am Dampfen.
Erst mal müssten sich die Länder dann auf eine gemeinsame Bewertungsskala
einigen. Dann müssten auch die Hochschulen mitziehen, die bei der Auswahl
ihrer Studierenden schließlich ein Wörtchen mitreden wollen. Das Problem
liegt ja auf der Hand: Wer bevorzugt nicht eine Physikstudentin, die auch
in einer Stresssituation glatte 15 Punkte abgeräumt hat? Die Hochschulen
stünden unter ständigem Rechtfertigungsdruck für ihre Auswahl.
Möglicherweise bis vor Gericht. Von den psychischen Folgen für die
Abgewiesenen ganz zu schweigen.
Was also tun? Um ein einigermaßen vergleichbares Abitur sicherzustellen,
bliebe theoretisch natürlich noch die Möglichkeit, die Abiturprüfungen
derer zu annullieren, die sie noch schreiben mussten. Doch das wäre mit
Abstand die absurdeste Lösung. Schon letztes Jahr haben die
Abiturient:innen [3][(Stichwort: zu schweres Mathe-Abi)] bewiesen, dass sie
sich nicht mehr alle föderalen Ungleichheiten gefallen lassen – und
ordentlich Druck auf die Kultusministerien ausüben können. Es ist also
schwer vorstellbar, dass sie sich dieses Jahr trotz Coronachaos erst auf
die Abiprüfungen vorbereiten und sie dann noch mitschreiben, nur um sich
dann die sauer erbüffelten Leistungen wieder wegnehmen zu lassen.
Nein, jetzt wo ein Bundesland schon mit den Abiprüfungen durch ist, müssen
sie auch in allen anderen Ländern stattfinden, auch wenn sich das im
Einzelfall noch über Monate hinzieht. Alles andere wäre genau das, was die
Politik verhindern möchte: ein Nachteil für die Betroffenen.
24 Mar 2020
## LINKS
[1] /Corona-in-Berlin-und-das-Schulsystem/!5671847
[2] /Bitte-Abstand-halten-Corona/!5668780
[3] /Beschwerden-ueber-Pruefungsaufgaben/!5597150
## AUTOREN
Ralf Pauli
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