# taz.de -- Geflüchtete in Tunesien: Der Traum von Europa versandet | |
> Tunesien plant ein Flüchtlingslager nahe der Grenze zu Libyen. Das ist im | |
> Sinne der EU, die ihre Grenzauslagerung nach Afrika weiter vorantreibt. | |
Bild: Aus Libyen gekommen: sudanesischer Flüchtling im tunesischen Zarzis | |
TUNIS taz | Bisher ist Bir al-Fatnasiya selbst in Tunesien kaum jemandem | |
ein Begriff. Doch das könnte sich bald ändern: Mitten in der Wüste, wenige | |
Dutzend Kilometer von der Grenze zu Libyen entfernt, laufen seit | |
Jahresbeginn Vorbereitungen für ein gewaltiges Flüchtlingslager. Bis zu | |
25.000 Menschen sollen hier unterkommen. Es wäre eines der größten Camps | |
Nordafrikas. | |
Videoaufnahmen aus Bir al-Fatnasiya zeigen, wie Baufahrzeuge bereits den | |
Untergrund planieren; rudimentäre Infrastruktur ist schon installiert. | |
Lange hatten sich die tunesischen Behörden und UN-Organisationen, die beim | |
Aufbau und Betrieb des Camps eine Schlüsselrolle spielen sollen, bedeckt | |
gehalten. | |
Doch im Februar ließ Adel Ouerghi, Gouverneur der Provinz Tataouine, die | |
Bombe platzen: Nahe der Stadt Remada, unweit eines militärischen | |
Sperrgebiets, werde in Koordination mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR | |
und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ein „temporäres“ | |
Lager errichtet, bis sich die [1][Krise im Nachbarland Libyen] entspanne, | |
[2][sagte er] dem Internetmagazin Meshkal. Der Krieg in Libyen zwingt | |
Tunesien damit zu drastischen Maßnahmen. In absehbarer Zeit dürften | |
vermehrt Zivilist*innen aus Libyen und dort festsitzende Geflüchtete in | |
Südtunesien Schutz suchen. | |
Die Eröffnung eines Camps ist zentraler Teil eines Notfallplans der | |
tunesischen Regierung und des UNHCR. Dieser soll greifen, wenn sich die | |
Lage in Libyen verschärft. Tunesien will vorbereitet sein für den Fall, | |
dass wie nach Kriegsausbruch 2011 erneut massenweise Menschen aus Libyen | |
flüchten. Damals hatten in wenigen Monaten Hunderttausende Libyer*innen und | |
Zehntausende Geflüchtete die Grenze passiert und südtunesische Provinzen | |
vor enorme Herausforderungen gestellt. | |
## Erinnerungen an 2011 | |
Mongi Slim, Präsident des Regionalkomitees des Roten Halbmondes in | |
Médenine, beschwichtigt derweil: „Ich glaube nicht, dass so viele Menschen | |
kommen wie 2011“, sagt er der taz. Die Aufnahmekapazitäten in den Städten | |
würden reichen, glaubt der Apotheker, die Eröffnung des Camps werde nicht | |
nötig sein. | |
Auch seien lokale Politiker in Südtunesien wenig begeistert über die Pläne, | |
sagt ein in die Betreuung Geflüchteter involvierter Vertreter der | |
Zivilgesellschaft in, der anonym bleiben möchte. Er verweist auf die | |
schlechten Erfahrungen aus Choucha, die ein Grund dafür sein könnten, dass | |
das Lager abseits urbaner Gebiete in der Wüste gebaut werden solle. | |
Das Flüchtlingslager Choucha war 2011 nahe der Stadt Ben Gardane errichtet | |
und 2013 aufgelöst worden. Erinnerungen an die teils chaotischen Zustände | |
in dem Lager, in dem zwischenzeitlich bis zu 18.000 Menschen untergebracht | |
waren, sind in Südtunesien bis heute präsent. | |
Zwar hatte sich die lokale Bevölkerung 2011 bei der Versorgung und | |
Unterbringung Zehntausender Geflüchteter über Monate hinweg in | |
beeindruckender Manier engagiert. Heute jedoch lehnen viele die erneute | |
Aufnahme derart vieler Menschen kategorisch ab. Rassistische Übergriffe | |
gegen Geflüchtete gehören inzwischen zum Alltag in der Region. | |
Die tunesische Menschenrechtsorganisation FTDES kritisiert den Mangel an | |
Informationen über den Notfallplan sowie die Standortwahl für das Lager in | |
Hinblick auf die zu erwartenden humanitären Bedingungen. Diese dürften in | |
der Tat kaum ideal sein. Zwar könne das Lager an das Stromnetz | |
angeschlossen werden, die Wasserversorgung sei hingegen ein Problem, sagt | |
Amor Bouaoun von der lokalen Gesundheitsbehörde in Tataouine gegenüber der | |
taz. | |
Das Krankenhaus in Remada, das mit der Koordination der medizinischen | |
Versorgung beauftragt werden soll, sei zudem nicht ansatzweise für derart | |
viele Menschen ausgelegt, sagt Bouaoun. Allerdings solle hier zusätzliches | |
Personal stationiert werden, sollte der Notfallplan tatsächlich aktiviert | |
werden. „Auch mobile Kliniken wird es geben.“ | |
## EU setzt Tunesien unter Druck | |
Das Lager könnte einschneidende politische Folgen für Tunesien mit sich | |
bringen. Die EU setzt das Land, das ist in einer tiefen Wirtschaftskrise | |
steckt, schon seit 2018 unter Druck, permanente „Ausschiffungsplattformen“ | |
einzurichten. Dort sollen Geflüchtete untergebracht werden, bevor sie | |
europäischen Boden betreten, was die Grenzauslagerung der EU nach Afrika | |
weiter vorantreiben würde. | |
Der Gouverneur von Tataouine erklärte zwar, das Lager werde unter keinen | |
Umständen in eine solche Resettlement-Plattform umgewandelt. Sollte das | |
Camp jedoch tatsächlich eröffnet werden, dürfte Brüssel alles daransetzen, | |
Tunesien mit wirtschaftlichen Anreizen zu ködern, und das Land drängen, aus | |
Bir al-Fatnasiya ein permanentes Lager zu machen. | |
Tunesien ist dabei in keiner günstigen Verhandlungsposition: Zu stark ist | |
es wirtschaftlich abhängig von der EU, der unzählige Mittel zur Verfügung | |
stehen, Tunis unter Druck zu setzen. Ob sich [3][Tunesiens neue Regierung | |
unter Elyes Fakhfakh] auf einen Deal im Sinne der EU einlassen wird, ist | |
zwar unklar, die Ankündigung, ein „temporäres“ Lager zu eröffnen, zeigt | |
aber: Der Widerstand in Tunis, sich noch enger in die | |
EU-Grenzauslagerungspolitik einbinden zu lassen, bröckelt. | |
7 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Haftars-Rebellen-greifen-an/!5665110 | |
[2] http://mesh-kal.com/2020/02/19/governor-confirms-new-temporary-refugee-camp… | |
[3] /Neues-Kabinett-in-Tunesien/!5667732 | |
## AUTOREN | |
Sofian Philip Naceur | |
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