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# taz.de -- Kinderbuchautorin über glückliche Enden: „Ich hatte unglaublich…
> In einer Welt ohne Ritter Trenk wäre es abends beim Vorlesen sehr still.
> Ein Gespräch mit Kirsten Boie über Schwerter und Älterwerden.
Bild: Seit 2019 Ehrenbürgerin von Hamburg: Autorin Kirsten Boie
taz: Haben Sie heute andere Kinder vor Augen, wenn Sie schreiben als vor
35 Jahren, Frau Boie?
Kirsten Boie: Generell gehe ich davon aus, dass sich Kinder heute gar nicht
so wahnsinnig unterscheiden von den Kindern früher. Ich glaube, das
Kinderleben unterscheidet sich massiv, aber die Entwicklungsphasen, die
Kinder durchlaufen, was sie als belastend empfinden, da ist vieles noch
genau gleich.
Wie wichtig ist es dann, dass die gegenwärtigen Lebensumstände mit
Patchworkfamilie und Co in den Kinderbüchern auftauchen? Viele Ihrer Bücher
sind ja im besten Sinn zeitenthoben.
Die neueren sind das, beginnend mit den 2000er-Jahren. Früher waren sie
sehr viel aktueller, realitätsorientierter und gesellschaftskritischer. Ich
denke, man braucht beides. Die Klassiker sind ja eigentlich ein Beweis für
das, was ich eben gesagt habe: Wenn Kinderbücher wirklich gut sind – wobei
ich jetzt nicht definieren müssen möchte, was ein gutes Kinderbuch ist –
... ach doch, bitte. Das gute Kinderbuch...
Ich denke immer, ich muss mir da etwas zurechtlegen. Es ist die
Standardfrage, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ob ein
Kinderbuch tatsächlich gut ist, kann man daran merken, dass es auch nach 70
Jahren Kinder noch erreicht und begeistert oder tröstet. Gleichzeitig
glaube ich auch, dass Kinder ihre Welt in ihren Büchern finden können
sollen.
Wie kam es zu Ihrer Hinwendung zum Zeitloseren?
Ich habe das nicht angesteuert. Die frühen und historisch und
gesellschaftlich sehr konkret angesiedelten Bücher habe ich geschrieben,
weil es da meine Themen waren, über die ich schreiben wollte und von denen
ich viele nach wie vor für relevant halte. Bei denen, die Sie zeitlos
nennen, gab es immer einen konkreten Anlass. Bei Ritter Trenk war es so,
dass ich im Gespräch mit der Mutter eines ungefähr fünfjährigen Sohnes war,
die beklagt hat, dass sie einfach nicht genügend Vorlesebücher für ihren
Sohn findet. Sie sagte, für so kleine Jungs, sie war da sehr
geschlechtsspezifisch...
... was Ihnen eigentlich fremd ist, oder?
Ich bin Mutter eines Sohnes und einer Tochter und würde schon sagen, dass
es da unterschiedliche Interessensschwerpunkte gibt. Gerade in dem Alter,
in dem sich die Kinder orientieren und sie gucken: Was macht der, wie ich
mal einer werden soll und was macht die, wie ich mal eine werden soll.
Deshalb ist die Gesellschaft ja auch so unheimlich wichtig und nicht nur
das Elternhaus.
Wie haben Sie es selbst als Mutter mit den Geschlechterrollen gehalten?
Mein Sohn fand Ritter unheimlich toll und wir waren sehr streng. Er durfte
keine Schwerter haben. Wir waren in den 70er-Jahren der felsenfesten
Überzeugung, dass Jungs und Mädchen 100 prozentig gleich sind und die
Unterschiede nur durch Erziehung entstehen. Diese Überzeugung wurde uns
dann ein Stück weit genommen.
Wie früh war für Sie klar, dass Sie Texte für Kinder schreiben wollen?
Ich habe als Kind und bis ich 15 Jahre alt war, die Absicht gehabt, Bücher
zu schreiben – also Erwachsenenbücher, klar. Und habe dann aufgrund der
Information, dass man in der Regel davon nicht leben kann, den Wunsch
aufgegeben. Das Studium hat auch dazu beigetragen, dass ich dachte: Jetzt
weiß ich, was einen guten Text ausmacht, das krieg' ich doch nie hin.
Ich würde denken, dass Ihnen ohnehin der unprätentiöse Gestus des
Kinderbuchs besser gefällt, diese Nicht-GroßschriftstellerInnen-Haltung.
„Ich bin Peter Handke, ich komme von Tolstoi, ich komme von Shakespeare“...
Vielleicht ist das inzwischen vorbei – das wäre doch schön. Ich schreibe
einfach Kinder- und Jugendbücher, weil es das ist, was mir unheimlich viel
Spaß macht. Und ich habe das ganze Spektrum der Welt, ich kann für ganz
unterschiedliche Altersgruppen erzählen, tragisch, pathetisch, lustig,
spannend, ich könnte da auch Krimis und Science Fiction schreiben.
Sie haben vermutlich das Glück, dass der Oetinger Verlag ohnehin sehr offen
ist für alles, was den Namen „Boie“ trägt.
Na ja, vielleicht nicht 100-prozentig. Mir geht es inzwischen, nach 35
Jahren, natürlich unglaublich gut im Vergleich zu Kollegen, die nicht so
eine lange Backlist und nicht solch einen Bekanntheitsgrad, das sage ich
jetzt einfach mal, haben. Es ist vorstellbar, dass ein Manuskript, das ich
schreibe, angenommen wird, aber nicht angenommen würde, wenn es ein
Newcomer geschrieben hätte. Und ich war von Anfang an in einer
privilegierten Situation: Ich musste nie eine Familie vom Schreiben
ernähren. Ich glaube, dass Sie an das Schreiben ganz anders herangehen,
wenn Sie das müssen.
Ihr Schreiben war als Zubrot gedacht?
Genau. Das Jugendamt hatte mir ja nach der Adoption unseres Sohnes
untersagt, weiter als Lehrerin zu arbeiten. Es war schon klamm, ich habe
meine Lebensversicherung gekündigt, sonst wären wir nicht über die Runden
gekommen und ich sollte hinter dem Rücken des Jugendamtes etwas beisteuern.
Ich dachte, ich schreibe Heftromane. Ich denke, dass dadurch in meinen Kopf
eine Tür geöffnet wurde in Richtung: Du darfst schreiben.
Aber den Groschenroman haben Sie gar nicht angefangen.
Und ich weiß heute, dass ich es auch gar nicht gekonnt hätte, es wäre immer
ironisch geworden. Insofern war es ein toller Ausweg, dass mir, noch bevor
ich mich an die Arbeit gemacht habe, ein Kindertext in den Weg gekommen
ist.
Wie viel Disziplin braucht es, nahezu jedes Jahr ein Buch zu
veröffentlichen?
Ich glaube, ich habe das in der Anfangsphase gelernt. Da hatte ich ein
zweijähriges Kind und ein Neugeborenes, mein Mann war berufstätig, es gab
keine Kinderbetreuung. Das heißt, wenn ich schreiben wollte, dann musste
ich dann schreiben, wenn es die Möglichkeit gab.
Der Klassiker bei Autorinnen.
Natürlich. Dann können Sie nicht warten, bis eine Muse kommt und sie küsst.
Und ich war damals sicher auch noch naiver, als ich es heute bin. Ein
gewisser Größenwahn liegt ja auch darin. Aber ich glaube, den brauchen Sie.
Warum?
Wenn Sie schreiben, müssen Sie glauben können, es ist gut.
Sie haben Ihr Manuskript ja direkt an einen der besten Kinderbuch-Verlage
überhaupt geschickt...
Das wird Oetinger freuen. Aber das war ja nicht meine Absicht. Ich habe
drei Kapitel geschrieben und dachte: Wenn jemand das will, kann ich
weiterschreiben. Ich habe es an fünf Verlage geschickt und Oetinger hat
sich gleich am nächsten Morgen gemeldet. Was ich nicht wusste: das Thema
des Buches, Adoption, war eigentlich eine Nische. Und es war ein
Doppelthema: Adoption und dunkelhäutiges Kind. Ich habe ja nur darüber
geschrieben, weil es mein eigenes Leben war. Ich hatte ein unglaubliches
Glück. Wobei ich glaube, dass Verlage immer noch zugreifen, wenn sie
glauben, Potenzial zu sehen.
Sie sehen es nicht immer oder nicht sofort.
Michael Ende soll das Manuskript von Jim Knopf an 21 Verlage geschickt
haben. Hätte ich fünf Absagen bekommen, hätte ich gedacht, dass der Text
schlecht sein muss und dann hätte ich es gelassen. Männer – Frauen
Sie schreiben auch über traurig aktuelle Themen – etwa mit „Bestimmt wird
alles gut“ über das Leben von geflüchteten Kindern. Wie kam es dazu?
Da hat mich jemand von Onilo, einer Plattform für Schulen zum Lesenlernen,
gefragt, ob ich Lust hätte, etwas zu dem Thema zu machen. Da habe ich
gesagt: Wenn ich weiß, dass das über Euch wirklich Kinder erreicht, dann
mache ich das sofort. Und ich hatte ja in der Nachbarschaft Kinder aus
geflüchteten Familien, die schon Deutsch konnten, das war ein großes Glück.
Zwei Kinder haben mir erzählt, was für sie wichtig war, was für sie
schrecklich war. Bei Lesungen habe ich gemerkt, dass es genau die Dinge
waren, die die Kinder, die zuhörten, emotional erreicht haben.
Zum Beispiel?
Dass die Puppe des Mädchens verschwindet. Das ganze Gepäck wird ihnen
gestohlen und damit auch die Puppe.
So ähnlich wie bei Judith Kerr, deren Familie fast 90 Jahre vorher vor den
Nazis flieht und deren Hauptfigur ihr rosa Kaninchen verliert.
Es war ihre Erfahrung genau wie die des Mädchens, mit dem ich gesprochen
habe. Aber da wäre ich ja nicht drauf gekommen. Auch so Geschichten wie
die, dass sie Patronenhülsen gesammelt haben, das wäre mir geradezu pervers
erschienen, das so zu beschreiben wie Kinder hier früher nach Silvester
gesammelt haben. Das hätte ich als zynisch empfunden, aber genau das fanden
sie cool – auch wenn sie die Angriffe furchtbar fanden.
Es gibt Geschichten, denen Sie kein, zumindest kein eindeutig glückliches
Ende geben, etwa in der Mobbing-Geschichte „Nicht Chicago. Nicht hier“.
Fällt Ihnen das schwer?
Das Thema hat mich so erschreckt, weil ich mir vorher nicht hätte
vorstellen können, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass da auch die
Polizei an ihre Grenzen stößt. Da habe ich zum Teil sehr, sehr traurige
Geschichten gehört, auch solche, die mich wirklich böse gemacht haben. Dass
es kein gutes Ende gibt, ärgert die Leser ohne Ende – und das kann ich gut
verstehen. Ich kriege sogar jetzt noch tolle Jugendlichenpost, die Lehrer
sagen wahrscheinlich, seid höflich, sie schreiben: Könnte es vielleicht
eine Fortsetzung geben, in der Niklas und Karl Freunde werden?
Was antworten Sie dann?
Dann erkläre ich Ihnen, warum ich es so geschrieben habe und dass ich nicht
glaube, dass Niklas und Karl Freunde werden können. Ich schreibe aber auch
– da bin ich immer noch Lehrerin – dass ich denke, dass die einzigen, die
etwas hätten tun können, die Klassenkameraden sind. Die hätten Karl seine
Grenzen aufzeigen können, Lehrer können das nicht.
Sie selbst sind als Lehrerin auf eigenen Wunsch vom Gymnasium zur
Gesamtschule gewechselt. Wie kam das?
Ich war im Prinzip an diesem Gymnasium sehr glücklich mit den Schülern. Die
waren nett, sensibel, klug, man konnte alles Mögliche mit ihnen besprechen.
Ich entsinne mich im Englischunterricht in der fünften Klasse, als es darum
ging, Begriffe für Räume zu lernen, sollten alle beschreiben, was es bei
ihnen so gibt. Da kamen Fragen wie: Was heißt „Bibliothek“, was heißt
„blauer Salon“? Ich hatte das Gefühl, es ist eine sehr heile Welt. Ich
dachte, ich möchte auch den anderen Teil kennenlernen.
Aus welchem Teil der Welt kommen Sie selbst?
Ich bin in Hamburg-Billstedt aufgewachsen, bin aber drei Stadtteile weiter
zum Gymnasium gegangen, in Billstedt gab es kein Gymnasium. Meine Eltern
waren sehr bildungsorientiert, ich kannte nur solche Kinder, wie ich es
war. Im Konfirmationsunterricht bin ich dann Kindern begegnet, die auf die
Hauptschule gingen, ein Mädchen hat die Realschule besucht. Wir haben immer
zusammen gesessen, wir haben uns dort auch fremd gefühlt. Das Konzept der
Gesamtschule schien mir nicht nur zu versprechen, dass auch die Kinder aus
schwierigeren Verhältnissen die Chance haben, zum Abitur zu kommen, sondern
auch, dass alle zusammen lernen und niemand sich so fremd fühlt wie ich
damals.
Mit welchen Gefühlen nähern Sie sich Ihrem Geburtstag?
Ich werde jetzt siebzig und ich habe es inzwischen so oft gesagt, dass ich
es mir allmählich vorstellen kann. Aber eigentlich ist es für mich immer
noch unvorstellbar, weil mein Bild von 70 ein vollkommen anderes ist als
meine eigene Erfahrung mit mir. 70-Jährige in meiner Kindheit waren zum
Gutteil tot und wenn sie noch lebten, dann saßen sie am Fenster und
schauten heraus. Da hat sich ganz viel geändert und das ist einerseits
toll, weil die Möglichkeiten so viel mehr geworden sind, zumindest für die
Menschen, die das Geld dafür haben. Aber andererseits ist das auch ein
Druck, mit dem man lernen muss, einigermaßen selbstbewusst umzugehen.
9 Mar 2020
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kinderbuch
Autorin
Hamburg
Geschlechterrollen
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