# taz.de -- Galway ist Kulturhauptstadt Europas: Wie Barcelona im Regen | |
> Ihr Weg zur europäischen Kulturhauptstadt war holprig. Doch die irische | |
> Stadt Galway hat Potenzial: Studierende, Festivals, Straßenkünstler. | |
Bild: Keinen Flughafen, aber Pubs mit Stimmung: Galway in Irland | |
Dann ist auch noch die offizielle Eröffnungsfeier wegen eines Sturmtiefs | |
ausgefallen. Das [1][Kulturhauptstadtjahr steht für die westirische Stadt | |
Galway] unter keinem guten Stern. Dabei ist man im Februar in dieser Gegend | |
an widrige Wetterbedingungen gewöhnt, aber mit einem Orkan hatte niemand | |
gerechnet. | |
Die Eröffnungsfeier war von Wonder Works konzipiert worden, die auch die | |
Zeremonien für die Olympischen Spiele in Athen, London und Pyeongchang | |
entworfen hatten. Die Organisatoren und KünstlerInnen hatten sich | |
monatelang auf die Show mit Musik und Tanz, Feuerwerk und Fackeln | |
vorbereitet. Eine Verschiebung war nicht möglich: Die Veranstaltung hatte | |
nur für das geplante Datum eine Genehmigung. | |
So musste man in ein Hotel ausweichen, statt des Open-Air-Spektakels gab es | |
eine Rede der Kreativdirektorin für Galway 2020, Helen Marriage. Sie weinte | |
leise dabei, hatte sie doch geglaubt, dass die Schwierigkeiten endlich | |
überwunden wären. | |
Doch der Reihe nach. Galway wurde 2016 [2][neben der kroatischen Stadt | |
Rijeka] von der Europäischen Union zur europäischen Kulturhauptstadt 2020 | |
ernannt. Man machte sich in Galway mit Enthusiasmus an die Planung. Im | |
Bewerbungsschreiben stand: „Es geht darum, auf die durch Kolonisierung, | |
Armut, Patriarchat und Neoliberalismus entstandenen Probleme mit einer | |
Lösung zu antworten, die sich mit Emigration, Umweltzerstörung, Integration | |
und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit in der Kultur und den Künsten befasst.“ | |
## Kinderbuch statt Großprojekt | |
Doch schon bald fingen die Probleme an. Das ursprüngliche Budget, das bei | |
der Bewerbung zur Kulturhauptstadt eingereicht wurde, belief sich auf 46 | |
Millionen Euro. Das wurde später auf 39,7 Millionen reduziert – also um | |
fast 14 Prozent. So mussten einige Events geschrumpft oder gar abgesagt | |
werden. | |
Hy Brasil zum Beispiel, ein Großprojekt mit Kindern aus Galway, wurde auf | |
ein Kinderbuch von Trish Forde eingedampft, das jeder Schulanfänger in | |
Galway in diesem Jahr erhält. Das weltberühmte Druid Theatre aus Galway, | |
das „Middle Island“ auf der Insel Inis Meain in der Bucht von Galway | |
aufführen wollte, sagte ab, weil die Gelder um fast die Hälfte gekürzt | |
worden waren. | |
Vor zwei Jahren traten John Crumlish, der Direktor des Internationalen | |
Kunstfestivals, sowie die Geschäftsführerin Hannah Kiely und der | |
Kreativdirektor Chris Baldwin aus dem Organisationskomitee zurück. In einem | |
Zwischenbericht der EU hieß es damals, dass das Projekt „nicht sonderlich | |
gut gemanagt“ sei. Galway laufe Gefahr, vom Weg abzukommen, es drohten | |
weitere Verzögerungen. | |
Man fand zwar Ersatz für die zurückgetretenen Mitglieder des Komitees, aber | |
der Zeitplan geriet immer mehr unter Druck. Das löste man, indem man | |
verkündete, dass man sich nun nach dem keltischen Kalender richte. Laut dem | |
fängt das Jahr am 1. Februar an. An diesem Tag beginnt auch der Frühling, | |
Imbolc, von dem bei der Eröffnungsfeier freilich nichts zu spürten war. | |
Wenigstens die „Fire Tour“ mit Feuer und Licht in sechs umliegenden | |
kleineren Ortschaften, die in die große Eröffnungszeremonie münden sollte, | |
konnte stattfinden. | |
## Nicht zu vergessen die Wirtshäuser | |
Das Programm ist aber trotz der Einschnitte ambitioniert. Es umfasst über | |
1.900 Events mit Literatur, Musik, Theater, Kunst, Tanz, Film, Architektur | |
und Sport. Höhepunkte sind die Teilnahme der kanadischen Schriftstellerin | |
Margaret Atwood an den Feiern der „Wild Atlantic Women“ zum Internationalen | |
Frauentag; die Lichtshow in der Berglandschaft Connemaras durch den | |
finnischen Künstler Kari Kola; eine Neuinterpretation des Gilgamesch-Epos, | |
aufgeführt von der innovativen Performance Company Macnas; und „Sruth na | |
Teanga“, ein Stück über die Evolution der irischen Sprache, das im | |
stillgelegten Flughafen aufgeführt wird. | |
Es gebe drei Hauptthemen, sagt Marriage, nämlich Sprache, Landschaft und | |
Migration. „Ziel ist es, zu reflektieren, was es bedeutet, ein modernes | |
europäisches Land in diesen schwierigen Zeiten mit Nationalismus und | |
Rechtspopulismus zu sein“, sagt sie. Galway sei zwar als Kulturhauptstadt | |
im Herzen Europas, aber wenn man in der Stadt sei, merke man schnell, dass | |
man sich am Rand Europas mit dem Atlantik vor der Tür und Amerika dahinter | |
befinde. | |
Galway, auf Irisch Gaillimh, ist mit seinen 80.000 Einwohnern jedoch eine | |
äußerst lebendige Stadt, aber sie ist nicht typisch für Irland. JedeR | |
vierte BewohnerIn studiert an einer der beiden Universitäten. Es gibt | |
dauernd irgendwelche Festivals, wie Cúirt, ein Literaturfestival, Baboró, | |
ein Festival für Kinder, das Austernfestival oder die Galway-Regatta. | |
„Nicht zu vergessen die Wirtshäuser“, sagt Tom Kenny, Direktor von Kenny�… | |
Bookshop and Art Gallery. „Wer Whiskey mag, geht zu Garavan’s oder zu Sonny | |
Molloy’s“, empfiehlt er, „für Freunde traditioneller Musik ist die Crane | |
Bar ein Muss.“ | |
Kennys Familie betrieb den besten Buchladen Irlands, bevor er aus der | |
Innenstadt in ein Industriegebiet umzog. Tom Kenny kennt Geschichte, | |
Geschichten und Anekdoten Galways wie kein anderer. Das Wort „lynchen“ zum | |
Beispiel stamme aus Galway, sagt er: „James Lynch, der Bürgermeister der | |
Stadt, verurteilte 1493 in einem Mordprozess seinen Sohn zum Tode und | |
vollstreckte das Urteil selbst.“ Die Burg der Familie Lynch, in der heute | |
eine Bank untergebracht ist, liegt mitten in der Innenstadt. Über dem | |
Eingang hängt immer noch das Familienwappen. | |
## Musiker, Jongleure, Zauberer | |
An jeder Straßenecke findet man Musiker, Jongleure, Zauberer oder | |
Schauspieler, die kleine Sketche aufführen. Die Bürokraten in der | |
Stadtverwaltung wollen diese Aktivitäten einschränken. Seit Anfang des | |
Jahres sind weder Verstärker vor 18 Uhr erlaubt noch Percussion-Instrumente | |
oder Vorführungen, die größere Menschenmengen anziehen könnten. Wer dagegen | |
verstößt, muss mit mindestens 75 Euro Strafe rechnen. Dabei verdienen die | |
meisten Straßenkünstler nicht mal den Mindestlohn. | |
„Die Touristen kommen doch nicht wegen des Wetters“, sagte ein Musiker. Die | |
Stadt ist nicht nur im Sommer voller Menschen, und es werden demnächst noch | |
mehr. Lonely Planet hat Galway auf den vierten Platz der besten Reiseziele | |
gesetzt, knapp vor Bonn. | |
Patricia Philbin, die neue Geschäftsführerin von Galway 2020, sagt, das | |
ganze Land werde davon profitieren: „Man muss ja irgendwo anders im Land | |
ankommen, um nach Galway zu gelangen.“ Der Flughafen ist ja stillgelegt. In | |
anderen Kulturhauptstädten sei der Tourismus um zehn bis dreißig Prozent | |
gestiegen, sagt sie. Aber braucht Galway das überhaupt? Voriges Jahr kamen | |
1,7 Millionen Besucher aus dem Ausland nach Galway, dazu eine Million | |
einheimische Reisende. | |
## Touristen und der Wohnungsmangel | |
Karen Golden von der Simon Community, einer Hilfsorganisation für | |
Obdachlose, sagt, durch den Titel als Kulturhauptstadt und die | |
Lonely-Planet-Liste werden noch mehr [3][Wohnungen in AirBnB-Unterkünfte] | |
umgewandelt, was die Wohnungssituation weiter verschärfen werde. „Viele | |
Familien müssen zu den Eltern ziehen, manchmal müssen sich 15 Menschen drei | |
Schlafzimmer teilen“, sagt Golden. | |
Die Künstlerin Mary O’Malley befürchtet, dass Galway das Huhn, das goldene | |
Eier legt, mit dem Programm für Galway 2020 töten wird. „Galway galt seit | |
Langem als Stadt der Künste“, sagt sie. „Ich finde es problematisch, dass | |
man die Künste nun als Teil einer riesigen Marketing-Maschine benutzt. Ich | |
glaube kaum, dass die Stadt all die zusätzlichen Menschen verkraften kann.“ | |
Eine Stadt müsse an erster Stelle loyal zu ihren Bewohnern sein, die | |
Touristen kämen erst an zweiter Stelle, sagt sie. Die vielen Pappkartons | |
als Schlafstätten in der Innenstadt bewiesen, dass hier etwas schieflaufe. | |
Die gescheiterten Mitbewerber um den Titel als Kulturhauptstadt finden, | |
dass Galway den Titel gar nicht nötig hatte. Sheila Deegan, | |
Kulturdezernentin von Limerick, sagte: „Der Titel soll dabei helfen, Städte | |
zu regenerieren, ihr internationales Profil zu schärfen, das Image im | |
eigenen Land zu verbessern und dem Tourismus sowie den Künsten neues Leben | |
einzuhauchen. Man könnte sagen, dass Galway all das alles bereits hatte.“ | |
Und das Wetter bleibt, wie es ist, daran ändert auch der Titel als | |
Kulturhauptstadt nichts. Helen Marriage sagt: „Ich finde, Galway ist wie | |
Barcelona mit Regen. Es regnet hier 240 Tage im Jahr.“ Man gewöhnt sich | |
dran und freut sich über die anderen 125 Tage umso mehr. | |
8 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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