Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Neues Album von King Krule: Selbsthass mit Bariton
> King Krule croont wieder: Auf dem neuen Album „Man Alive!“ zieht der
> britische Künstler alle Register: Nahtod-Texte und experimentelle
> Produktion.
Bild: Ein bisschen Karussellanschieber: Archy Marshall
„Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die
Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein
ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich“,
schrieb [1][Georg Büchner] als 20-Jähriger im Frühjahr 1834 an seine
Verlobte Wilhelmine Jaeglé. Zermürbt vom „grässlichen Fatalismus“ der
Geschichte, den er bei seinen Studien zu „Dantons Tod“ hassen lernte,
zweifelte der Dichter am gesamten Menschengeschlecht.
Der heute 25-jährige Südlondoner Archy Marshall ist zwar bekennender Fan
von [2][Oscar Wilde] und Gustave Flaubert, ihn verbindet aber auch einiges
mit dem hessener Schriftsteller Büchner. Twentysomething, männlich,
fatalistisch, realistisch – das spiegelt sich in der Arbeitsmethode wider.
Marshall, der sich als Künstler King Krule nennt, ist ein Komponist, der
sich mit seinen Songs mittlerweile recht weit entfernt hat vom Entwickeln
klassischer Arrangements.
Allein im heimischen Studio, allein mit allen Instrumenten – abgesehen vom
effektvoll eingesetzten Saxofon –, zusätzlich bewaffnet mit dem schier
unendlichen Soundarchiv des Internets, schnipselt und bastelt King Krule
wie ein HipHop-Produzent seine Stücke auseinander und wieder zusammen. Hier
ein Knopfdruck, der eine eingespielte Gitarrenhookline triggert, dort eine
Taste betätigt und ein Sample aufgerufen: Diese Montagetechnik ist das
prägendste Merkmal der King-Krule-Klangwelt – neben seiner Stimme, die
schon seit Jugendtagen, als er noch als Zoo Kid firmierte, sein
Markenzeichen ist.
Auf seinem vierten, dieser Tage erschienenen Album „Man Alive!“ ändert sich
daran wenig. Immer noch vermengt und vermischt er, klebt per Pastiche und
Sampling seine Lieder zusammen. So finden sich Telefonklingeln neben
Field-Recordings von nächtlichen Straßen, Foundsounds (Klangfetzen eines
Klaviers) neben produzierten Gitarrenlicks wieder. Vergleicht man das mit
Büchners literarischer Gestaltungstechnik, kommt man kaum umhin, King
Krules Methode in einer Ahnenfolge zu lesen, als moderne Form des
Materialismus zu bezeichnen.
Dazu kommt derweil, dass sich King Krule schon vor Jahren als Kenner der
[3][Marx]-Engels-Schriften outete. Er sehe sich eher als moderner Chronist
denn als realistischer Dichter. So wird „Man Alive!“ textlich vor allen
Dingen zur Paulus-Geschichte: Als kiffender Slacker, der tagsüber rumhing,
um abends mit seinen Freunden saufen zu gehen, verlebte er die letzten
Jahre. Dieses Ritual der langsamen Zerstörung psychischer und physischer
Natur drohte „Woyzeck“-like im Wahn zu enden; bis Marshall erfuhr, dass
seine Freundin, die Fotografin Charlotte Patmore, ein Kind von ihm
erwartete.
Ergo änderte Marshall sein Leben, um alles auf die Reihe zu bekommen, nahm
er sich aus den zerstörerischen Kontexten und zog mit seiner Kleinfamilie
aufs Land im Nordwesten Englands. Sein neues Album ist also Zeugnis eines
Schlussstriches unter den vorherigen Lebensabschnitt. Mit einer Stimme, die
[4][Johnny Rotten] zum Weinen bringen könnte, mit dem unerschütterlichen
Bariton des Selbsthasses erzählt Marshall von einer Vergangenheit zwischen
Prügeleien, Alkohol- und Drogenmissbrauch – stets in mirakulösen
Vexierbildern, die doppeldeutig und -bödig sind. Nur mit dem richtigen
Schlüssel lassen sich die Zeilen öffnen, sie zeigen so, was sie ehemals
verbargen.
Es sind häufig luzide Träume, Großstadtfantasien am Rande des Zerfalls,
expressionistische Wutausbrüche oder einfach mantraartige
Durchhalteparolen (wie bei „Alone, Omen 3“). So inszeniert King Krule sein
eigenes Leben als Aneinanderreihung von Nahtoderfahrungen, denen er nun
entkommen zu sein scheint.
Obschon die Songtexte dies vorgaukeln wollen, verrät der Sound des Albums
eine unheimliche zweite Realität: „Man Alive!“ klingt streckenweise wie der
Cold-Turkey-Wahn beim Heroinentzug. Eine Atmosphäre mit rausgebrochenen
Zähnen und offenen Wunden nach einem Gang durch die Krebsbaracke der
Psyche, kurz: wie das Werk, das Pete Doherty immer veröffentlichen wollte,
aber nie konnte. Beeindruckend für ein viertes Album, noch beeindruckender
aus der Hand eines 25-jährigen Familienvaters.
27 Feb 2020
## LINKS
[1] /Georg-Buechners-200-Geburtstag/!5057093
[2] /Schau-zu-Kunstkritik-und-Oscar-Wilde/!5455269
[3] /Karl-Marx-Werk/!5502350
[4] /Die-Sex-Pistols-und-die-Stranglers/!5200682
## AUTOREN
Lars Fleischmann
## TAGS
London
Bariton
King Krule
Singer-Songwriter
Elektropop
England
## ARTIKEL ZUM THEMA
Spiritueller Jazz aus Großbritannien: Mysteriöse Kometenmelodien
Das britische Trio The Comet Is Coming feiert den Kollektivgeist des Jazz.
Es dockt mit seinem Sound an die Londoner Dancefloor-Szene an.
Elektro-Dancefloor von Mount Kimbie: Lieben, was übrig bleibt
Abschied vom Post-Dubstep: Das englische Duo Mount Kimbie wagt auf seinem
Album „Love What Survives“ einen Neuanfang.
Punkpoet King Krule: Sommersprossen, Segelohren
Gilt als Punkpoet des britischen Prekariats und singt wie ein geprügelter
Hund: Der 19-jährige Londoner King Krule und sein Debüt „6 Feet beneath the
Moon“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.