| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Griechische Wutbürger | |
| > Bei Protesten auf den ägäischen Inseln gegen die Flüchtlingslager | |
| > dominieren rechte Parolen. Die neue Regierung setzt auf Abschottung. | |
| Bild: Bei einer Demo auf Lesbos dominierten Parolen, die aus dem Arsenal von Ne… | |
| Anfang 2019 stand die Flüchtlingsfrage auf der Rangliste der politischen | |
| Probleme Griechenlands noch an fünfter Stelle. Ein Jahr später zeigen die | |
| Umfragen, dass sie als zweitgrößtes Problem wahrgenommen wird, gleich nach | |
| der Arbeitslosigkeit. | |
| Die Stimmung im Land ist gekippt. Heute finden 56 Prozent der griechischen | |
| Bevölkerung, die Präsenz von zehntausenden Flüchtlingen gefährde die | |
| wirtschaftliche Entwicklung; 58 Prozent fühlen gar ihre „nationale | |
| Identität“ bedroht; und 53 Prozent machen die „Fremdlinge“ für die erh�… | |
| Kriminalitätsrate verantwortlich.1 | |
| Zwei Entwicklungen haben diesen Stimmungsumschwung bewirkt: Erstens ist die | |
| Zahl der Flüchtlinge drastisch angestiegen. 2019 registrierte man knapp 75 | |
| 000 Neuankömmlinge, 47 Prozent mehr als 2018; davon kamen fast 60 000 übers | |
| Meer. Vier von fünf Flüchtlingen setzten von der türkischen Küste auf die | |
| Inseln Lesbos, Chios und Samos über. Allein auf Lesbos waren es im | |
| vergangenen Jahr 27 108.2 Damit ist schon der zweite Faktor benannt: Die | |
| Situation in den Lagern auf den Inseln [1][ist außer Kontrolle geraten]. | |
| Das krasseste Beispiel ist der sogenannte Hotspot von Moria auf Lesbos, wo | |
| ständig neue Flüchtlinge ankommen, für die schlicht kein Platz ist. Bis | |
| Oktober 2019 durften keine Lagerinsassen mehr aufs griechische Festland | |
| weiterreisen. | |
| Die fünf Hotspot-Zentren auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos sind für | |
| eine Kapazität von 5400 Menschen ausgelegt, heute hausen im Umkreis dieser | |
| Lager knapp 35 000 Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen. Auf | |
| Lesbos machen sie 24 Prozent der Einwohner aus, auf Leros 27,5, auf Samos | |
| 22, auf Chios und Kos jeweils 12 Prozent. Der Ruf nach „Entlastung“ der | |
| Inseln wird ständig lauter. | |
| ## Generalstreik auf Lesbos, Chios und Samos | |
| Bei einem „Generalstreik“, der am 21. Januar auf Lesbos, Chios und Samos | |
| ausgerufen wurde, dominierten Parolen, die aus dem Arsenal der griechischen | |
| Neonazis stammen könnten. Auf Samos versprach der Abgeordnete, der die | |
| Insel im Athener Parlament vertritt, die „Befreiung von der Tyrannei der | |
| Migranten und Flüchtlinge“ binnen eines Jahres. | |
| Bei der Kundgebung auf Lesbos orakelte der Präfekt der Region Nordägäis, | |
| Kostas Moutzouris, über einen „Plan zur Veränderung der Bevölkerung“, den | |
| finstere Mächte ausgeheckt hätten. „Wenn das Vaterland in Gefahr ist“, ri… | |
| der Präfekt in die Menge, „dann interessiert uns nicht, was die Verträge | |
| sagen“ – und meinte damit das humanitäre Völkerrecht und die | |
| Grundrechtecharta der EU.3 | |
| Beide Lokalpolitiker gehören zum rechten Flügel der Regierungspartei Nea | |
| Dimokratia (ND). Damit hat Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ein großes | |
| Problem. Die ND-Politiker auf den Inseln rebellieren gegen die Athener | |
| Regierung. Sie fordern die sofortige Schließung aller Hotspots in der | |
| Ostägäis. Das aber ist in den Plänen der Regierung nicht vorgesehen. | |
| Nach der neuen Flüchtlings- und Asylpolitik, die Mitsotakis im vergangenen | |
| Oktober verkündet hat, sollen die fünf überfüllten Insellager durch | |
| geschlossene Anlagen ersetzt werden, in denen jeweils rund 5000 abgewiesene | |
| Asylbewerber bis zu ihrer Abschiebung quasi inhaftiert sein würden. Dagegen | |
| sollen Flüchtlinge, deren Asylanträge noch laufen, auf das Festland | |
| gebracht werden, wo acht bis zehn neue, aus EU-Geldern finanzierte | |
| Auffanglager entstehen sollen. | |
| Für die Regierung birgt das die Gefahr, dass sich der Volkszorn auch an den | |
| neuen Standorten artikuliert. Mitsotakis sitzt also in einer Zwickmühle, | |
| vollmundige Versprechungen bringen ihn nicht weiter. Seine „neue“ | |
| Flüchtlingspolitik sieht Ziele vor, deren Realisierung von | |
| Voraussetzungen abhängen, auf die Athen keinen Einfluss hat. So sollen die | |
| Asylverfahren beschleunigt werden, was erheblich mehr Personal erfordert. | |
| Das hat die zuständige EU-Behörde Easo (Europäisches Unterstützungsbüro f�… | |
| Asylfragen) zugesagt, aber ob die zusätzlichen 500 Hilfskräfte bis Ende des | |
| Jahres tatsächlich eintreffen, bleibt abzuwarten. | |
| Zudem hofft Athen auf die Weiterleitung von Flüchtlingen mit Aussicht auf | |
| Asyl in andere EU-Länder sowie die „Rücküberstellung“ von mindestens 10 … | |
| nicht asylberechtigten Flüchtlingen bis Ende 2020. Aber die Aufnahme | |
| asylberechtigter Flüchtlinge in anderen EU-Ländern ist ebenso ungewiss wie | |
| die Bereitschaft der Türkei, die abgewiesenen Asylbewerber | |
| „zurückzunehmen“. | |
| ## Reeder spendieren Patrouillenboote | |
| Die neue Politik sieht auch eine dichtere Abschottung der Seegrenze vor den | |
| Inseln vor. Das erfordert die personelle und technische Verstärkung der | |
| Küstenwache, für die Mitsotakis bereits private „Sponsoren“ gewonnen hat: | |
| Die griechischen Reeder, die bekanntlich keine Steuern zahlen müssen, haben | |
| dem Staat zehn supermoderne Patrouillenboote „gespendet“. | |
| Eine zweite Maßnahme zum „Schutz“ der Seegrenze wurde eher diskret | |
| eingeleitet: Das Verteidigungsministerium hat ein Geheimprojekt über eine | |
| sogenannte boat barrier ausgeschrieben. Die 2,8 Kilometer lange schwimmende | |
| Barriere soll im Norden von Lesbos an dem Küstenabschnitt installiert | |
| werden, [2][den die meisten Flüchtlingsboote aus der Türkei ansteuern]. Ob | |
| diese innovative „Grenzsicherung“ mit dem Völkerrecht vereinbar ist, wird | |
| von einigen NGOs angezweifelt. | |
| Allerdings sollen NGOs in Griechenland bald ohnehin nicht mehr viel zu | |
| sagen haben. Das ist der letzte und heikelste Punkt der neuen Athener | |
| Flüchtlingspolitik. Sie sieht eine verschärfte Aufsicht über die NGOs vor, | |
| die mit „Sanktionen bis hin zu Verboten“ belegt werden können, falls man | |
| ihnen „gesetzwidriges Verhalten“ nachweisen kann. Damit bedient die | |
| Mitsotakis-Regierung denunziatorische Vorurteile, die seit Langem von | |
| rechtsradikalen Kreisen verbreitet werden: Die NGOs würden mit türkischen | |
| „Schleusern“ zusammenarbeiten, das beweise schon die Tatsache, dass die | |
| Helfer bei der Landung von Booten meistens vor der griechischen Küstenwache | |
| zur Stelle seien. | |
| Dass die Regierung dieses Feindbild nutzt und fördert, hat einen schlichten | |
| Grund: Die NGOs sind auch die schärfsten Kritiker der skandalösen Zustände | |
| in den Lagern, für die sie seit Jahren die Athener Politiker verantwortlich | |
| machen. Auch der ND-Regierung halten sie ein umfassendes Sündenregister | |
| vor. In einem offenen Brief vom 21. Januar erinnern 17 griechische und | |
| internationale NGOs daran, dass gleich zu Beginn von Mitsotakis’ Amtszeit | |
| den Flüchtlingen und Migranten der bis dahin garantierte Zugang zu den | |
| staatlichen Krankenhäusern verwehrt wurde.4 Das trage zu den Zuständen in | |
| den überfüllten Lagern bei, die „gegen fundamentale menschliche Werte und | |
| nationale wie internationale Gesetze verstoßen“. | |
| ## NGOs fordern eine langfristige Integrationspolitik | |
| Die 17 NGOs fordern deshalb, alle Flüchtlinge müssten ab sofort wieder | |
| Zugang zu den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen haben. Was die | |
| „Entlastung“ der Insellager betrifft, so befürworten sie die Verlegung der | |
| Flüchtlinge in Unterkünfte auf dem Festland, „die den Bedürfnissen der | |
| einzelnen Bevölkerungsgruppen entsprechen“. Zudem verlangen sie eine | |
| langfristig angelegte Integrationspolitik, die den Flüchtlingen unter | |
| anderem den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Am Schluss ihres Briefs | |
| drücken die NGOs die Hoffnung aus, die Regierung Mitsotakis werde dem | |
| „entstandenen Klima der Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit | |
| entgegenwirken“. | |
| Diese Hoffnung wird nicht in Erfüllung gehen. Dafür bürgt schon der rechte | |
| Flügel der ND, der mit Adonis Georgiades den Vizeparteichef stellt. Der | |
| populistische Demagoge, der zugleich Investitionsminister im Kabinett | |
| Mitsotakis ist, tut alles, um die fremdenfeindliche Stimmung im Land zu | |
| verstärken. Am 11. Januar war Georgiades zu Gast beim TV-Sender Antenna, | |
| als die Meldung von einem Seenotrettungseinsatz eintraf. Vor der | |
| griechischen Westküste war nahe Paxos ein Flüchtlingsboot gekentert. Der | |
| ND-Vize reagierte spontan: „Stellt euch vor, wie gut die vorbereitet waren, | |
| dass sie die Nummer 112 kannten!“ Gefolgt von der Klage: „Wir sind Opfer | |
| eines kollektiven Versuchs, das Land zu überfremden.“ | |
| An diesem 11. Januar ertranken vor Paxos 12 Menschen. Die griechische | |
| Küstenwache konnte 21 Schiffbrüchige aus dem eiskalten Wasser bergen, 20 | |
| Männer und eine Frau. Ihre Rettung war die Nummer 112. | |
| 1 Umfrage der Organisation diaNEOsis, zitiert nach Kathimerini, 21. Januar | |
| 2020. | |
| 2 Zahlen von der UNHCR und örtlichen Polizeibehörden. | |
| 3 Zitiert nach der lokalen Website stonisi.gr vom 21., 25. und 26. Januar | |
| 2020. | |
| 4 [3][„Open Letter to Greece’s new Minister on Migration and Asylum“], | |
| Danish Refugee Council, 21. Januar 2020. | |
| © LMd, Berlin | |
| 22 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Fluechtlingslager-in-Griechenland/!5660028 | |
| [2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5249373 | |
| [3] https://drc.ngo/news/open-letter-to-greeces-new-minister-on-migration-and-a… | |
| ## AUTOREN | |
| Niels Kadritzke | |
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