| # taz.de -- Die Wahrheit: Rache der Bettnässer | |
| > Vollkommen zu Recht gilt das verfluchte Dreckskaff mit dem beknackten | |
| > Namen St. Peter-0rding als öliger Schandfleck am weißen Nordseestrand. | |
| Bild: Viele ehemalige Verschickungskinder wollen nicht mehr an die Nordsee, wei… | |
| Neulich bekam ich eine Postkarte aus St.-Peter-Ording. Sie hat mich in | |
| tiefe Depressionen gestürzt. Ich hatte das Dreckskaff recht erfolgreich | |
| verdrängt. Jetzt kam alles wieder hoch. | |
| Als ich fünf war, hatten mich meine Eltern für sechs Wochen in diese Hölle | |
| an der Nordsee geschickt, weil sie in Ruhe Urlaub mit dem Motorrad machen | |
| wollten. Es würde mir schon gefallen, glaubten sie, zumal mein Freund | |
| Rainer dabei war. Von dem wurde ich gleich nach der Ankunft getrennt und | |
| sah ihn erst bei der Rückreise wieder. | |
| Ich kam ins Gartenhaus, ein euphemistischer Name für diesen mit | |
| Gitterbetten vollgestopften Zwinger. Die Aufseherinnen, die wir „Tanten“ | |
| nennen mussten, waren BDM-geschult. Sie hassten Kinder, weil sie dem Führer | |
| selbst kein Kind geschenkt hatten. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs war in | |
| St.-Peter-Ording ein militärisches Ausbildungslager eingerichtet worden. | |
| Offenbar sind die Nazi-Tanten von dort direkt ins Kinderheim gekommen, wo | |
| sie ihre Schreckensherrschaft nahtlos fortführten. | |
| Angst hatte man vor allem vor dem Bettnässen, denn dann musste man ewig in | |
| dem nassen Bett stehen, kam zum Frühstück an den Bettnässertisch und wurde | |
| ins Bettnässerbuch eingetragen. Am Abend zwang man uns, auf Toiletten ohne | |
| Türen zu gehen. Jedem wurden zwei Blatt Klopapier ausgehändigt. Die | |
| Knauserigkeit setzte sich beim Essen fort. Der Fraß, den man uns vorsetzte, | |
| war ungenießbar. Wer ihn aus lauter Ekel hochgewürgt hatte, musste das | |
| Erbrochene wieder aufessen. | |
| ## Vorgedruckte Postkarten | |
| Dass dieser Ort des Grauens an der Nordsee lag, merkten wir erst nach drei | |
| Wochen, weil wir an den Strand zum Muscheln sammeln abkommandiert wurden. | |
| Zu diesem Zweck hatten wir aus Berlin einen Stoffbeutel mitbringen müssen. | |
| Wer ihn vergessen hatte, durfte nicht an den Strand. Es war aber ohnehin | |
| das einzige Mal, dass wir das Meer sahen. | |
| Die größte Demütigung war die Postkarte an die Eltern. Ich konnte bereits | |
| lesen und schreiben und wollte einen Hilferuf absetzen. Dazu kam es nicht. | |
| Die verdammte Karte war mit einem Text vorgedruckt, der von vorne bis | |
| hinten erlogen war. Es sei alles wunderschön, hieß es da, das Essen sei | |
| lecker, und man habe viel Spaß. Am Ende war gerade noch so viel Platz, dass | |
| man seinen Namen druntersetzen konnte. Ich unterzeichnete mit „Erwin“ in | |
| der Hoffnung, dass meine Eltern die versteckte Botschaft kapieren und mich | |
| befreien würden, aber die Wärterinnen rochen den Braten und gaben mir eine | |
| neue Karte. | |
| Nach sechs Wochen war die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Eltern | |
| entschwunden, doch dann wurden wir aus dem widerlichen Nest entlassen. Aber | |
| es gibt Hoffnung – der [1][Klimawandel] als Chance! Irgendwann wird der | |
| steigende Meeresspiegel dafür sorgen, dass St.-Peter-Ording von den Fluten | |
| verschlungen wird. Ich werde mir einen Diesel-SUV zulegen, um die Sache zu | |
| beschleunigen. | |
| 24 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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