| # taz.de -- Die Wahrheit: Das Loch im Geschehen | |
| > Eine auf den ersten Blick unschuldige Szene in einem Café. Wie in einem | |
| > Song. Es wird Kaffee getrunken, Kuchen bestellt. Aber wer ist die | |
| > Täterin? | |
| Sie trug einen Afro. Das machte sie normalerweise nicht. Privat trug sie | |
| verschiedenfarbige Socken; an diesem Tag waren es eine blaue und eine | |
| weiße. Warum keine rote? Weil sie einen Afro trug, was sie sonst nicht | |
| machte, aber über kein drittes Bein verfügte. | |
| Sie befand sich im Transit und hatte Stöpsel in den Ohren, auf denen | |
| Spotify das Programm „Einkaufsradio“ abspielte. Überhaupt bot sie einen | |
| demokratischen Anblick: offen, weltzugewandt, angemessen gekleidet. Ihr | |
| gegenüber saß eine Frau mit einem Hörgerät. Beide hörten sich nicht. | |
| Trotzdem sagte die eine: „An Ihrer Stelle wäre ich nicht tätowiert. Sie | |
| sehen aus wie gecastet“, worauf die andere antwortete: „Das ist eine | |
| komische Aussage. Das ist wie zu sagen: ‚Ich wollte, ich wäre | |
| verheiratet.‘“ | |
| „Sie befand sich im Transit“, klingt etwas gespreizt, tatsächlich saß sie | |
| nur im Bus. Die Arbeiterklasse fuhr Bus, die höheren Angestellten Auto, die | |
| prekären Kinder der Mittelschicht Fahrrad, das war immer noch so, auch in | |
| dieser Stadt. Und wenn man einsam war nach Feierabend, einsam wie ein | |
| Strandparkplatz in einem Badeort im Winter, empfahl sich der Gang in ein | |
| Café, die entscheidenden Bücher hatte sie dabei. | |
| Das Café Espera, war der richtige Ort für sie. Es befand sich gleich an | |
| ihrer Bushaltestelle, hatte ein gut sortiertes Zeitungssortiment und eine | |
| gelungene Auswahl an Kaffee und Kuchen. Es gab sogar kleine portugiesische | |
| Kaffeeeinheiten und den unwiderstehlichen Geruch nach Puderzucker. Das | |
| Publikum generierte sich aus den Fahrgästen der Buslinie, den Hipstern aus | |
| dem angrenzenden Altbauviertel und den Freaks, die hier im ausgehenden | |
| Licht eines sanften Vorabends mit ihren Tinder-Dates chatteten. Etwas | |
| überraschend war lediglich, dass auch die Frau mit dem Hörgerät ins Café | |
| spaziert war. | |
| Hier bot sich dann ein Loch im Geschehen. Die Pointe sollte allerdings noch | |
| kommen, versprochen. Vorher aber könnte man noch darüber fabulieren, dass | |
| Kaffeehausliteraten ebenso eine aussterbende Spezies waren wie überhaupt | |
| Texte über Cafés, meist wusste man ja, worauf es hinauslief. Anomische | |
| Bekanntschaften, lose Sätze wie in Suzanne Vegas „Tom’s Diner“, das vorh… | |
| noch in ihrem Einkaufsradio-Kanal bei Spotify gelaufen war. Aber egal, | |
| kommen wir rasch zum Ende dieser Angelegenheit: | |
| Sie trug einen Afro, bestellte sich einen Galão und setzte sich. Die Frau | |
| mit dem Hörgerät bestellte sich einen Kaffee und vier Stück Kuchen: | |
| Erdbeer, New York Cheese Cake, Marmorkuchen und Kalter Hund. Die Bedienung | |
| schaute sie einmal skeptisch an und kümmerte sich dann um die Bestellung. | |
| Das Glas mit den Trinkgeldern, neudeutsch „Tip“, das eben noch so | |
| kundenfreundlich auf der Theke stand, war kurz darauf so rasch verschwunden | |
| wie die Frau aus dem Bus. | |
| Sie war durch ein Loch im Geschehen gefallen. Entwischt ins Nirwana. Danach | |
| war dann endlich was los im Café Espera, aber davon ein andermal. | |
| 19 Feb 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| René Hamann | |
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