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# taz.de -- Laibach-Musical im HAU Berlin: Die Deutschen sind die anderen
> Mit Texten von Heiner Müller performten Laibach im HAU. „Wir sind das
> Volk“ wurde großartig inszeniert von Anja Quickert.
Bild: Laibach mit Sänger Milan Fras in Fantasieuniform sagt gewohnt stoisch �…
Man stelle sich vor, es ist der 3. Oktober 2020 und auf der 30.
Einheitsfeier vor dem Brandenburger Tor spielt Laibach ein Konzert mit dem
Titel „Wir sind das Volk – ein Musical“. Kein abwegiger Gedanke,
schließlich hat [1][die slowenische Kunstband] auch schon so einigen Mist
mitgemacht und dem Aufarbeitungsweltmeister Deutschland wäre ein solcher
Coup durchaus zuzutrauen.
Allein daran, dass dieses Musical nicht vor dem Brandenburger Tor, sondern
im Kreuzberger Hebbeltheater aufgeführt wird, kann man ermessen, woran der
Erinnerungsweltmeister nicht erinnert werden will: dass Deutschland immer
noch deutsch ist und man den Deutschen immer noch misstraut. Dieses
Misstrauen hegte auch der [2][große deutsche Dramatiker und Autor Heiner
Müller], den die Untoten der deutschen Geschichte zeit seines Lebens
umtrieben.
Und so ist es geradezu erstaunlich, dass erst jetzt jemand auf die Idee
kam, die Texte des 1995 verstorbenen Intellektuellen von den slowenischen
Künstlern der Band Laibach aufführen zu lassen. Ein Kollektiv, das in
diesem Jahr 40. Geburtstag feiert und seit je die Überwältigungsstrategien
totalitärer Ästhetik, Sprache und Musik verhandelt und nie aufgehört hat,
an die Anwesenheit faschistischer Elemente in unser aller Alltag zu mahnen.
Tatsächlich wird das Theaterpublikum fast den ganzen Abend hinweg
eingekesselt zwischen den bombastischen Trommeln, gleißenden Scheinwerfern,
einem wahnsinnigen Streicherquartett und den Projektionen von Stacheldraht
und KZ-Orten auf deutschen Landkarten; dazu kommen Fotos von klassischen,
faschistischen und kommunistischen Körperskulpturen, Fotos und Videos aus
deutschen Familienalben und einem blutroten Wald, die an den Seitenwänden
des Theaters entlanggleiten.
## In silberner Schlagerstarhose
Auf der Bühne wechseln sich, wie es sich für ein Musical gehört, Balladen,
Chansons und Textdeklamationen ab, die von einem Pianisten begleitet
werden. In silberner Schlagerstarhose und weißem Hemd singt der slowenische
Sänger Cveto Kobal ans Klavier gelehnt das Fliegerlied von Hans Albers,
während auf den Wänden Flugzeuge, Stacheldraht und Hakenkreuze
umherfliegen.
Die beiden Schauspielerinnen Agnes Mann und Susanne Sachsse singen und
deklamieren im Stil von Revuenummern Heiner-Müller-Texte: autobiografische,
in denen er von seiner Kindheit während des Faschismus in
Mecklenburg-Vorpommern erzählt, wo er sich als „Ausländer“ fühlte. Gedic…
wie „Seife in Bayreuth“, in der Müller den Ort als Geburtsort von
Auschwitz bezeichnet, und Theoretischeres wie „Herakles 2 oder die Hydra“,
in dem der Erzähler begreift, dass er selbst Teil des Monstrums ist, dem er
zu entkommen versucht.
Zwischen diesen großartigen Auftritten wird aus archaischen
Trommelfeuerwerkern und Höllenstreichern ein martialischer Gewitterkrach,
die den Laibach-Sänger Milan Fras ankündigen. Dieser lässt gewohnt stoisch
und in Fantasieuniform seine diabolische Stimme eines Untoten
Heiner-Müller-Sätze sagen: „Ich bin der Engel der Verzweiflung“, „Mein …
gehört mir“, „Ordnung und Disziplin“.
## Keine Parodie, die pure Tragik
Erneut steht der Sänger Kobal am Klavier und intoniert ein Gedicht Heiner
Müllers mit aller für eine Liebesschnulze typischen schmerzverzerrten Mimik
und Körperhaltung. Es ist jedoch nur ein Satz, den er singt: „Ich will ein
Deutscher sein.“ Das Publikum lacht. Was aussieht wie die Parodie auf das
Ringen mit der Identität, hat einen krassen Hintergrund: Der Satz stammt
nicht wirklich von Heiner Müller. Der hatte ihn zwar in einem Gedicht
verwendet. Aber er stammte von einem jüdischen Jungen aus dem Warschauer
Ghetto. Seine Aufzeichnungen überlebten den Nationalsozialismus. Er selbst
wurde ermordet.
Überhaupt bilden „Deutscher“ und „Deutsch“ klammheimlich das Zentrum d…
Abends. Auch, weil das Publikum mitspielt. Denn nur drei Mal macht es sich
Luft. Es lacht, während Kobal „Ich will ein Deutscher sein“ singt. Es
lacht, als Müllers Satz „10 Deutsche sind dümmer als 5 Deutsche“ an die
Wand projiziert wird. Und es lacht, als am Ende des Abends Peter Mlakar,
der Chefphilosoph des slowenischen Kunstkollektivs NSK, auf die Bühne tritt
und seine Rede mit „Liebe Deutsche“ beginnt. Es lacht, weil man sich als
Gast im HAU natürlich nicht als Deutscher angesprochen fühlt.
Auf die Schnelle denkt man ja erst, dass so ein Abend vielleicht gerade an
diesem Wochenende besser im Erfurter Dom abgehalten worden wäre als in
einem Kreuzberger Theater. Aber die großartige Inszenierung der Regisseurin
Anja Quickert und der slowenischen Künstler liefert eine große Einsicht:
dass es sehr deutsch ist zu denken, Deutsche sind immer die anderen. Die,
über die wir lachen. Und dabei – so vielleicht die zentrale Botschaft
dieses Abends, sind wir es alle. Kartoffel, Alman, Faschist oder
Antifaschist: Wir sind das Volk.
9 Feb 2020
## LINKS
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[2] /Inszenierung-an-der-Berliner-Volksbuehne/!5631902
## AUTOREN
Doris Akrap
## TAGS
Laibach
Heiner Müller
Musical
Schwerpunkt Stadtland
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Aldi
Reiseland Kroatien
Schwerpunkt Rassismus
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