# taz.de -- Das Coronavirus und die Folgen: Eine Angst, die rassistisch ist | |
> Stecken wir uns nun alle mit dem Virus aus China an? Diese Befürchtung | |
> vieler Menschen hierzulande äußert sich nicht in stiller, unschuldiger | |
> Sorge. | |
Bild: Kann vor einem Virus schützen – aber vor Rassismus? | |
Als am 11. September 2001 zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade | |
Center flogen, war ich elf Jahre alt. Es ist das erste große, | |
weltpolitische Ereignis, an das ich mich erinnere. Ich weiß, dass es mir | |
naheging, so nah, dass ich ein Kreuz aus Papier ausschnitt, die Frage | |
„Warum?“ darauf schrieb und es an meine Zimmertür klebte. Pubertärer | |
Weltschmerz, der ehrlichste Weltschmerz von allen. Und ich weiß, dass ich | |
ständig dieses eine Bild sah: Ein Mann mit Turban auf dem Kopf, mit langem, | |
ungepflegtem Bart und dunklen Augenringen. Osama bin Laden, der | |
islamistische Terrorist, der Böse, der Mensch gewordene Voldemort. | |
Als am 19. Dezember 2016 ein Laster in den Weihnachtsmarkt am Berliner | |
Breitscheidplatz raste, war ich 26 Jahre alt. Ich war in der Stadt | |
unterwegs und bekam drei Nachrichten. Ob ich in Sicherheit sei? Es habe | |
einen Anschlag gegeben. Ich saß in der U-Bahn, mir war mulmig. Ich sah | |
einen Mann mit dunklen Haaren, ungepflegtem Bart und Augenringen. Mein | |
Blick blieb ein paar Sekunden zu lange kleben. Ich hatte ein komisches | |
Gefühl. Ein Teil davon war Angst. Der andere Teil war die beschämende | |
Erkenntnis, rassistisch zu denken. Ich, erwachsen, sensibel. Ich, die ich | |
selbst schon Rassismus erfahren habe. | |
Meine Angst war natürlich nicht böse gemeint, das macht sie aber nicht | |
weniger rassistisch. Rassismus braucht keine bösen Absichten. Meine Angst | |
in der U-Bahn gründet darauf, dass ich in einer islamfeindlichen Welt | |
aufgewachsen bin. Sie formte sich aus sehr mächtigen Bildern und Worten, | |
die das Feindbild des „arabischen Terroristen“ besonders seit 9/11 immer | |
wieder befeuern. | |
Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie gut die schwelende Angst vor | |
dem Coronavirus aus China deutlich macht. Besonders, seit die ersten | |
Infektionen mit dem Virus in Deutschland bestätigt worden sind, bin ich | |
besorgt. Denn die durchaus menschliche Angst vieler vor einer Ansteckung | |
mit dem unbekannten Erreger äußert sich eben nicht in stiller, unschuldiger | |
Sorge. Sie äußert sich in Rassismus. | |
## Mit den Händen essen ist mal spannend, mal „primitiv“ | |
Schon in den ersten Stunden nach Bekanntwerden der Corona-Seuche | |
verbreiteten sich Bilder von essenden Asiat:innen im Netz. Besonders | |
populär war ein Video, auf dem eine junge Frau eine Suppe mit einer | |
Fledermaus isst. Dass die Aufnahme erstens nicht aus Wuhan, sondern aus dem | |
Inselstaat Palau stammt, zweitens nicht aktuell ist und drittens einen | |
Ausnahmefall asiatischer Esskultur zeigt, war egal. Was hängen bleibt: Die | |
da essen alles und deshalb muss sich die Welt jetzt vor einem Killer-Virus | |
fürchten. | |
Für Menschen mit asiatischen Wurzeln sind abwertende Äußerungen über „die | |
asiatische Esskultur“ nichts Neues. Wahrscheinlich wurde jede:r von uns | |
schon mal gefragt, ob „sie in China wirklich Hunde essen“. Es wurde die | |
Nase gerümpft, wenn wir unsere Tupperdosen mit Mamas Tofu geöffnet haben. | |
Es werden uns lange Vorträge über ungesundes Glutamat oder giftige | |
Tapiokaperlen in Bubble Tea gehalten. Und während sie jetzt beim regionalen | |
Bioschlachter damit werben, das Schwein ganz nachhaltig komplett zu | |
verwerten, gelten an Hühnerfüßen knabbernde Chines:innen als ekelhaft. | |
Die Abwertung von asiatischen und auch afrikanischen Küchen und | |
Essgewohnheiten hat im Westen Tradition. Ihre Bewertung pendelt meist | |
zwischen exotisch und widerlich. Die Deutungsmacht über das, was als | |
„zivilisiert“ gesehen wird, liegt seit Kolonialzeiten auch kulinarisch bei | |
den Weißen. Mit den Händen essen ist auf gut Glück mal spannend, mal | |
„primitiv“. Essstäbchen gelten mal als elegant und mal als unzumutbar. | |
Schmatzen und Schlürfen beim Essen widerspricht ordentlichen Tischmanieren | |
– sagen Leute, die ihren Rotz in ein Stück Papier oder Stoff prusten und | |
dieses dann in die Hosentasche stecken? | |
Chinarestaurants und Asiaimbisse kämpfen immer noch mit dem Vorwurf, | |
„unhygienisch“ zu sein. Chinatowns – in vielen Städten der Welt Orte, an | |
denen sich chinesische Einwanderer:innen zunächst niederließen – gelten als | |
dreckig. In Deutschland wurden Chines:innen bereits vor der Machtergreifung | |
der Nazis in rechtskonservativen Zeitungen als „gelbe Gefahr“ geframt. | |
Es ermüdet, ständig Rassismus zu erklären | |
Seit dem ersten bestätigten Corona-Fall in Bayern berichten | |
asiatischstämmige Menschen von einer Zunahme rassistischer Erfahrungen im | |
Alltag. Diese Menschen sind – kaum zu glauben – sehr verschieden. Manche | |
sind hier geboren, andere sind zugewandert. Ihre Eltern kommen aus Vietnam, | |
aus Südkorea, aus Japan, aus Thailand, aus China. Sie erzählen von | |
prüfenden Blicken, die ein paar Sekunden zu lang an ihnen kleben bleiben. | |
Von Passant:innen, die bei ihrem Anblick die Straßenseite wechseln. Von | |
„Witzchen“ und Kommentaren im Büro. Wer vermeintlich chinesisch aussieht | |
und niesen muss ist vermutlich infiziert, haha. Mir schrieb jemand: „Das | |
ist kein Rassismus, das ist Angst und für Angst muss sich niemand | |
entschuldigen da es ein Instinkt ist. Klar ist das unhöflich und roh, aber | |
das ist eben das Gesicht der Angst. Es langweilt überall Rassismus mit rein | |
panschen zu müssen“ [sic]. | |
You know what, ich bin auch gelangweilt. Es ermüdet, ständig erklären zu | |
müssen, dass nicht wir diejenigen sind, die den Rassismus überall „mit | |
reinpanschen“. Es ermüdet mich, dass wir gleichzeitig diejenigen sind, die | |
noch immer am häufigsten gezwungen sind, Rassismus zu erklären. Es ermüdet | |
mich, zu Beginn dieses Textes pädagogisch-wertvoll zu erläutern, dass auch | |
ich rassistisch denke, damit Sie vielleicht das gute Gefühl haben: Na, dann | |
traue ich mich auch. Es ermüdet mich, dass dieses Land sich schon so lange | |
als Einwanderungsnation profiliert, aber viele weiße Deutsche bis heute | |
nicht in der Lage sind, Schwarze Menschen und People of Color als deutsch | |
anzusehen. Gähn. Auch das ist ein wesentliches Merkmal von Rassismus: Er | |
macht müde. Und er hält dich von deiner eigentlichen Arbeit ab, wie Toni | |
Morrison es so treffend auf den Punkt brachte. | |
Die rassistischen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Coronavirus sind | |
gerade zum Glück noch nicht die Regel. Aber es heißt was, dass Menschen, | |
die als asiatisch gelesen werden, seit Tagen das Gefühl haben, auf der Hut | |
sein zu müssen. Dass sie in Frankreich unter dem Hashtag | |
#jenesuispasunvirus (also: ich bin kein Virus) von Rassismuserfahrungen | |
berichten, das heißt was. Nämlich: Warum zur Hölle fühlen sich Menschen | |
gezwungen zu erklären, dass sie kein Virus sind? Ach ja, wegen Rassismus. | |
Dass die rassifizierte Angst vor Krankheiten schnell zu Diskriminierung | |
führen kann, zeigt auch ein Blick auf die Ebola-Epidemie von 2014 und die | |
Sars-Pandemie von 2003. Die Stadtforscher Roger Keil und Harris Ali | |
[1][beschreiben zum Beispiel], wie der Ausbruch des Sars-Virus und dessen | |
Framing als „Chinesenkrankheit“ in Toronto zu Diskriminierung der | |
asiatischstämmigen Bevölkerung führte. In einer Stadt, die als | |
multikulturelle Vorzeigemetropole gilt. | |
Wer sich als fortschrittliche Zivilisation begreifen will, muss aus solchen | |
Erfahrungen endlich lernen. Das bedeutet nicht, dass wir nun alle an | |
Hühnerfüßen knabbern müssen. Aber es bedeutet, aufmerksam zu sein, sich | |
weiterzubilden, zuzuhören. Es bedeutet, offene Solidarität mit Betroffenen | |
zu zeigen. Und vor allem bedeutet es, sich endlich einzugestehen: Meine | |
Angst ist keine unschuldige Angst, sondern rassistisch. | |
1 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.utpjournals.press/doi/abs/10.3138/topia.16.23 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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