| # taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Adel auf dem Lande | |
| > Unterschiedliche Perspektiven auf den gleichen Ort: Moritz von Uslar, | |
| > Manja Präkels und Zehdenick. | |
| Bild: Störche bei Zehdenick | |
| Message“ an die Sängerin vom Singenden Tresen Manja Präkels: „Manja, ich | |
| habe mir gerade Dein Buch ‚Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß‘ gekauft. | |
| Davor hatte ich Moritz von Uslars Zehdenick-Reportage ‚Deutschboden‘ | |
| gelesen. Du bist doch aus Zehdenick. Kommt in Deiner Zehdenick-Biographie | |
| was über seinen Bestseller vor? Kritisierst Du ihn darin?“ | |
| „Nein“, kommt es zurück, „aber hier“: ein Link zu einem langen | |
| Spiegel-Artikel darüber, was sie von seiner Darstellung hält. | |
| Uslar hatte sich vor allem mit vier Musikern der Rockband „5 Teeth Less“ | |
| angefreundet, die ab 1990 den harten Kern der Neonazis in Zehdenick | |
| bildeten. Sie hatten Schlägereien gegen Ausländer und Zecken angezettelt – | |
| mit Vertreibungen, schweren Verletzungen und mindestens einem Totschlag. | |
| Ihre Szene war zeitweise so groß, dass sie mit geringen Strafen oder sogar | |
| straffrei davonkamen. Die Wirren nach der Wende ließen vieles zu. Die | |
| Zehdenicker hatten zudem noch weit mehr Ängste: Arbeitsplätze verschwanden, | |
| ihre Betriebe, Kulturhäuser, Kinos, Theater. Eine Furie des Verschwindens | |
| hatte alles erfasst – mit den Treuhandabwicklungen, den | |
| Streckenstilllegungen der Bundesbahn und den Alteigentümern, die um „ihre“ | |
| Häuser schlichen. In leerstehenden LPG-Kantinen trafen sich ehemalige | |
| Stasi-Offiziere und konnten es nicht fassen. | |
| Auch Uslar kann es nicht fassen. Zumal seine Saufkumpane in Zehdenick jetzt | |
| zur FDP tendieren. Nur ihre Tätowierungen und ihr Alkoholverbrauch zeugen | |
| noch von den wilden Neunzigerjahren. Durch die Verfilmung von Uslars Buch | |
| 2014, in der sie als Band mitspielen, wurden sie sogar zu lokalen Stars. | |
| Der Gitarrist heiratete, bekam ein Kind und wurde von der taz rührend | |
| interviewt. | |
| ## „Baseballschlägerjahre“ | |
| Manja Präkels’ anklagendes Buch und ihr Spiegel-Artikel erschienen 2017. | |
| Uslar veröffentlichte seine Reportage 2010. Manja Präkels war mit einem | |
| seiner Protagonisten, der sich nach der Wende Hitler nannte, befreundet. Es | |
| gab auch noch einen Goebbels in Zehdenick. | |
| 2018 veröffentlichte der Kulturhistoriker Harald Jähner des Buch | |
| „Wolfszeit“, es handelte von den Verbrechen und Scheußlichkeiten nach dem | |
| „Zusammenbruch“ 1945 – bis 1955. Die Enkel und Kinder dieser | |
| Wolfsgeneration spielten das alles nach dem „Zusammenbruch“ des | |
| „Friedensstaates“ DDR noch einmal nach – mit Baseballschlägern (so heißt | |
| nun ein Hashtag – „baseballschlaegerjahre“ der damals von ihnen Bedrohten… | |
| Über Schwarzmarkt- und Drogengeschäfte integrierten sich die Zehdenicker | |
| Neonazis dann aber in die neue deutsche Gesellschaft. | |
| Uslar ist ein adliger Westdeutscher, der bei Tempo Journalist war und in | |
| der neuen Berliner Chichi-Kunst-Szene mitmischt. Manja Präkels ist mit | |
| ihrer Berliner Band nicht weit von dieser Szene entfernt. Mit ihrem | |
| West-Freund schreibt sie in Spex über das „Erwachsenwerden im geteilten | |
| Land“. Sie ist eine feministische Ostlerin, in Zehdenick war sie | |
| Thälmann-Pionierin und gleich danach eine „Zecke“. Uslar interessiert sich | |
| für Zehdenick, das er anonymisiert, und nicht für Neonazis, wie er sagt. | |
| Sie beherrschten aber in der „Wolfszeit“ die Kleinstadt. | |
| ## „Geile Weiber“ | |
| Er will 2010 partout keinen moralischen Blick auf sie werfen, sondern einen | |
| ästhetischen: Tätowierungen, Kleidung, Haarschnitte, Biersorten, Sprüche | |
| (auch Reklame des Einzelhandels) sind es, die er protokolliert, vornehmlich | |
| an einer Theke oder im Übungsraum der Band. Auch in Manja Präkels’ | |
| Erinnerungen wird viel gesoffen – nicht weniger trübsinnig. | |
| Übrigens hat auch Uslar in Zehdenick eins auf die Fresse bekommen: von | |
| seinem Sparringpartner im dortigen Boxverein, der ihn anschließend | |
| verächtlich „Westsau“ nannte. Das trifft es ziemlich genau, auch Uslar | |
| selbst sieht das so. Er rächt sich dann aber mit seinem Buch an ganz | |
| Zehdenick. Scheiß-Ostprolls alle, in Billigturnschuhen. Aber die Weiber | |
| sind z. T. geil. | |
| Manja Präkels antwortete mit dem Spiegel-Artikel, dem sie den Titel „Echte | |
| Männer, geile Angst“ gab. Heute ist Zehdenick ein Traumziel für Berliner | |
| Ausflügler mit E-Bike, denn dort haben die Gartenlokale an der Havel alle | |
| Ladestationen. | |
| 24 Jan 2020 | |
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| Helmut Höge | |
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