# taz.de -- Reform der Organspende: Eine Herzenssache | |
> Der Bundestag beschließt eine moderate Reform der Organspende und lehnt | |
> die Widerspruchslösung ab. Die Debatte ist nachdenklich und emotional. | |
Bild: Der Fraktionszwang war – wie bei Gewissensentscheidungen – üblich au… | |
BERLIN taz | Es geht zum Beispiel um Lilli. Lilli, ein neunjähriges | |
Mädchen, wartet in einer Hamburger Klinik auf ein Spenderherz. Seit 19 | |
Monaten, Tag für Tag, hoffen sie und ihre Eltern auf den erlösenden Anruf, | |
dass ein Organ für eine Transplantation bereit liegt. Lilli, erzählt der | |
SPD-Abgeordnete Matthias Bartke, am Rednerpult, habe ihm gesagt: „Wenn man | |
tot ist, braucht man doch seine Organe gar nicht mehr.“ Sie habe recht. | |
Manchmal hat der Bundestag über Fragen von Leben und Tod zu entscheiden. | |
Jene, wie es der [1][Gesetzgeber mit der Organspende] hält, ist so eine. | |
Sie wurde am Donnerstag im Plenum diskutiert. Es ging nachdenklich zu, aber | |
auch emotional. Der Fraktionszwang war – wie bei Gewissensentscheidungen | |
üblich – aufgehoben. [2][Die Frage ist: Darf der Staat seine BürgerInnen | |
automatisch als Organspender betrachten], wenn sie nicht ausdrücklich | |
widersprechen? | |
Eine solche „doppelte Widerspruchslösung“ fordert eine Gruppe Abgeordneter | |
um CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn und den SPD-Gesundheitsexperten Karl | |
Lauterbach. Lauterbach nennt in seiner Rede [3][dramatische Zahlen]. In | |
Deutschland sterben jedes Jahr über 1.000 Menschen auf der Warteliste für | |
ein Organ. In Nachbarländern würden zwei- bis dreimal so viele Organe | |
gespendet, betont er. „Wir sind Schlusslicht in Europa.“ | |
Dabei sei die Spendenbereitschaft hoch, sagt Lauterbach. 85 Prozent der | |
Deutschen stünden der Organspende positiv gegenüber. Leider gibt es eine | |
Kluft zwischen dieser Einstellung und der gelebten Praxis. Nur 39 Prozent | |
der Deutschen haben ihr Ja zur Spende auf einem Organspendeausweis oder in | |
einer Patientenverfügung dokumentiert. Lauterbach will die Kluft schließen. | |
Er spricht eindringlich, ohne Pausen zwischen den Sätzen, klammert sich am | |
Rednerpult fest. | |
„Es fehlt eine einfache, unbürokratische Regelung, wie man zum Spender | |
wird.“ Und: Es gebe keine Pflicht zur Spende. Aber es sei unethisch, ein | |
Organ im Falle einer schweren Krankheit für sich beanspruchen zu wollen, | |
aber selbst nicht mal bereit zu sein, Nein zu sagen, wenn man nicht spenden | |
wolle. | |
Der Vorschlag, den Lauterbach, Spahn und andere unterbreiten, wäre ein | |
Paradigmenwechsel: Wer ein Organ im Falle des Hirntodes spenden möchte, | |
muss bisher seine Einwilligung zu Lebzeiten gegeben haben. Spahns und | |
Lauterbachs Widerspruchslösung dreht diese Logik um. Jeder wäre ein | |
möglicher Organspender, es sei denn, er oder sie widerspricht. Das Nein | |
kann ohne jede Begründung erfolgen – und revidiert werden. Auch | |
Abstufungen, etwa nach einzelnen Organen, wären möglich. | |
## Kultur der Organspende | |
Nach Lauterbach bekommen 23 weitere RednerInnen das Wort. Jeder hat fünf | |
Minuten, die Debatte ist auf zwei Stunden angesetzt. Spahn hört in den | |
Reihen der Unionsfraktion zu, er hat den Antrag als Parlamentarier | |
eingebracht, nicht als Minister. Als Letzter geht er mit schnellen | |
Schritten nach vorn. | |
Die Widerspruchslösung sei „kein Allheilmittel, keine Wunderwaffe“, sagt | |
er. Sie bedeutete aber, dass die Gesellschaft deutlich mache: „Ja, wir | |
wollen eine Kultur der Organspende.“ Spahn verweist auf Patienten und | |
Kinder, die teils seit Jahren in Krankenhauszimmern mit großen Maschinen | |
lebten, weil es keine Spenderorgane gebe. In keinem anderen Bereich werde | |
solches Leid und eine solche desaströse Versorgungssituation akzeptiert. | |
Spahn schaut in die Runde. Sei es eine Zumutung, dass Leute, die nicht | |
spenden wollten, widersprechen müssten? „Ja, aber eine, die Menschenleben | |
rettet.“ Am Ende warnt er, der Gesetzentwurf der anderen Abgeordnetengruppe | |
werde nichts an der jetzigen Lage ändern. Das ist ein böser Vorwurf, denn | |
der Status quo, viel zu wenig Spenderorgane für zu viele Todkranke, ist | |
fürchterlich. | |
Den zweiten Gesetzentwurf haben die Grüne Annalena Baerbock, die Linke | |
Katja Kipping und andere formuliert. Sie schlagen [4][eine | |
„Zustimmungslösung“] vor, eine moderate Verbesserung der geltenden | |
Gesetzeslage. BürgerInnen sollen regelmäßig, etwa von Hausärzten oder wenn | |
sie im Bürgeramt einen Ausweis beantragen, über Organspenden informiert und | |
dazu ermuntert werden. Der Eintrag soll leicht über ein Onlineregister | |
erfolgen. | |
Die AfD-Fraktion wirbt in einem dritten Antrag dafür, die Vermittlung und | |
Kontrolle von Organspenden einer unabhängigen, öffentlich-rechtlichen | |
Institution zu übertragen. Er ist aber chancenlos. | |
## Wem gehört der Mensch? | |
Das Hauptproblem sei es, dass zu wenig gemeldet und zu wenig transplantiert | |
werde, sagt Baerbock. Durch das Onlineregister ändere sich die Realität, | |
weil die Ärzte im Krankenhaus sofort darauf zugreifen könnten, anstatt erst | |
den Organspendeausweis suchen oder Angehörige fragen zu müssen. Baerbock | |
macht klar, dass es auch um die ethische Frage „Wem gehört der Mensch?“ | |
gehe. Sie ruft: „In unseren Augen gehört er nicht dem Staat, nicht der | |
Gesellschaft. Er gehört sich selbst, ungefragt, ohne Widerspruch.“ | |
Die Bedenken vor staatlicher Bevormundung sind groß im Parlament. Mehrere | |
Gegner der Widerspruchslösung weisen auf Menschen hin, die sich nicht | |
artikulieren könnten. Was ist mit Obdachlosen, Depressiven oder | |
Analphabeten? Werden den Schwächsten durch die Widerspruchslösung Organe | |
gegen ihren Willen entnommen? | |
Interessant ist die Debatte vor allem auch deshalb, weil übliche Reflexe | |
unterbleiben. Die meisten Redner sparen sich polemische Angriffe auf ihre | |
Gegner. Da applaudiert die AfD-Fraktion der linken Sozialdemokratin Hilde | |
Mattheis, weil sie auch gegen die Widerspruchslösung ist. Da argumentiert | |
der Liberale Hermann Otto Solms klug für die Widerspruchslösung, obwohl sie | |
dem Staat mehr Macht gibt. Sein Fraktionskollege Otto Fricke entgegnet | |
später nicht minder klug. | |
Am Ende gewinnen jene, die weiter auf freiwillige Zustimmung setzen wollen. | |
Die Mehrheit stimmt gegen Spahns und Lauterbachs Widerspruchslösung – und | |
für Baerbocks moderate Reform. | |
16 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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