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# taz.de -- Hudson Yards in New York: Fata Morgana für Reiche
> Die Hudson Yards im Stadtteil Manhattan sind ein geschlossener Kosmos –
> und ein himmelstürmendes Symbol gesellschaftlicher Ungleichheit.
Bild: Besucher auf New York's Hudson Yards mit Blick auf den Hudson-River
Ein launischer Wind zieht durch Manhattan, doch in den Hudson Yards wütet
ein Sturm – kaum tritt man aus der erst vier Jahre alten, aber schon
glanzlosen U-Bahn-Station an der 34. Straße und zehnten Avenue in das nur
teilweise vollendete Viertel im fernen Westen der Insel, jagen die Böen um
die Ecken und zerren an den Kleidern: die Handvoll nagelneuer Hochhäuser,
die schroff wie Splitter in den Himmel ragen, kreieren ihr eigenes,
unwirsches Mikroklima. Zerzaust sucht man im nächsten Foyer Zuflucht – und
taucht in die entrückte Dämmerung von 30 Hudson Yards, dem nun
zweithöchsten Turm der Stadt. Mit seinen neunzig Stockwerken überragt der
blaue Glaskoloss das nahe Empire State Building – die Antenne nicht
mitgerechnet – um stolze sechs Meter.
Im Vestibül sitzt eine junge Dame allein hinter einem monumentalen Pult,
das ihr die ominöse Macht eines Türhüters bei Kafka zu verleihen scheint.
Jeder Schritt über die uferlose weiße Marmorfläche misst die mächtige
Verschwendungswut, die so viel Leere auf dem nun kostspieligsten Boden von
ganz New York bedeutet. Warner Brothers, HBO und CNN zählen zu den bereits
eingezogenen oder zukünftigen Bewohnern an der neuen Nobeladresse.
Am anderen Ende der Empfangshalle gleiten hinter Glas Menschen auf
Rolltreppen durch eine blendende Warenwelt: 30 Hudson Yards und die Nummer
10 – ein zweites Hochhaus derselben renommierten Firma KPF – flankieren
„wie Tanzpartner“, so die Architekten, ein siebenetagiges Einkaufszentrum
mit hundert Läden und 25 Lokalen.
Von beiden Wolkenkratzern gibt es direkten Zugang zu dem ebenfalls von Kohn
Pederson Fox gebauten Hochglanzemporium, und das Konzept der „Stadt in der
Stadt“, wie Makler diese insulare Nachbarschaft anpreisen, leuchtet
unmittelbar ein: auf die zugige Piazza, wo blaue Stiefmütterchen im
Schatten der hochmütigen Bauten zittern und die nahen Pressluftbohrer und
Betonsägen den üblichen New Yorker Straßenlärm ersetzen, muss man vorerst
nicht mehr hinaus – es gibt Restaurants und Cafés und Bars.
## Gewinnbringendes Pepetuum Mobile
Die Hudson Yards sind als geschlossener Kosmos konzipiert, der alle
Bedürfnisse in unmittelbarer Nähe erfüllt – ein gewinnbringendes Perpetuum
Mobile, angetrieben von Arbeit, Erholung und Konsum. Schaulustige aus
anderen Teilen der Stadt, die sich vom größten und mit 25 Milliarden Dollar
teuersten Mischgebiet in der Geschichte der USA ein Erlebnis versprechen,
sollen im Parterre in den Bann charismatischer Objekte geraten.
Hier haben sich Dior, Piaget, Rolex, Coach und der Rest der Luxus-Gang
versammelt, und prompt schleicht sich dieses leicht gelangweilte
Flughafengefühl heran – der vertraute Schwebezustand in der hermetischen
Zauberwelt unerschwinglicher Dinge.
In den mittleren Stockwerken haben auch publikumsfreundlichere Firmen wie
Zara und der texanische Gigant Forty Five Ten ihre sogenannten Concept
Stores für eine jüngere Klientel aufgeschlagen – sie sind beinah ebenso
ausgestorben wie die exklusiven Läden zu ebener Erde. Die obersten drei
Stockwerke regiert das in Dallas heimische Edelkaufhaus Neiman Marcus – ein
riskantes Manöver in einer Fußgängerstadt, die von jeher eine Abneigung
gegen den vertikalen Einzelhandel hegte und immer stolz auf ihre
individuellen Läden und Boutiquen entlang vitaler Straßen und Avenuen war.
Mit sorgfältig kuratierten Designgalerien, Originaldrucken von Roy
Lichtenstein und David Hockney, einer liebevoll gestalteten Wand mit
Schwarz-Weiß-Bildern des Modefotografen Bill Cunningham und einem Angebot,
das von 1.200-Dollar-Sneakers bis zur Couture in fünfstelligen Gefilden
reicht, bietet das 112 Jahre alte Unternehmen seine gesamten
Verführungskünste auf.
## Die Idee einer Einkaufszitadelle
Gleich am Eingang lockt ein funkelndes Nachtpanorama der New Yorker
Skyline, vor der ein gelbes Taxi – ein längst nostalgisches, vom Aussterben
bedrohtes Transportmittel – parkt. Schaufenster-Voyeure streunen herein und
porträtieren einander vor der fotogenen Kulisse – dann streunen sie wieder
hinaus.
Ein paar Schritte weiter wandelt man dann durch verwaiste Paradiese, wo
hochelegante Verkäuferinnen vergeblich gegen die über allem hängende
Melancholie anlächeln. Ohne Zweifel wissen sie, dass erst in den letzten
Monaten das alteingesessene Kaufhaus Lord & Taylor sowie ein erst kürzlich
eröffneter Ableger von Saks Fifth Avenue im Finanzviertel schließen
mussten.
Die Idee einer Einkaufszitadelle von hunderttausend Quadratmetern stammt
aus der glas- und steinzeitlichen, also voramazonischen Epoche um die
Jahrtausendwende. Inzwischen hat New York selbst in Soho und an der Madison
Avenue eine kommerzielle Leerstandsrate von zwanzig Prozent, und
insbesondere die Gattung Shopping Mall betrachten die Ökonomen als Fossil.
Zugleich hat New York aber auch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und
die Bequemlichkeiten des vorstädtischen Lebensstils importiert: behäbige
Autos, ausladende Apartments und vor allem Big-Box-Ladenketten mit
ubiquitärem Sortiment infiltrieren die City mit einer uniformen
Bürgerlichkeit.
Der Architekturkritiker der New York Times nannte die Hudson Yards einen
„aufgepumpten Büropark aus Suburbia“. Tatsächlich hatten die Bauherren der
Firmen Related Companies und Oxford Properties Group genau das im Sinn:
„New York, wie es sein soll.“ Das nächste Vorhaben von Related ist „eine
Straßenszene im Silicon Valley“.
Vom typischen amerikanischen Vorort unterscheidet sich die neue
Nachbarschaft allerdings schon allein durch die Höhe der Gebäude, die
Anzahl der an dem vor Ehrgeiz starrenden Projekt beteiligten
„Stararchitekten“ – und die vielen Touristen, die auf der introvertierten
Shopping-Meile mit spielerischen Wandinstallationen zu Selfies eingeladen
werden: am populärsten sind mit Kunsthaar bedeckte Tafeln, die man kämmen
und streicheln darf – offenbar entfacht das anonyme Umfeld mit seinen
kalten, glatten Oberflächen Sehnsucht nach taktilem Trost: nicht nur
Kinder, sondern auch Erwachsene harken andächtig durch den rosa und
türkisen Flausch. Ebenfalls zugkräftig ist der Salon der Starfriseuse Sally
Hershberger, wo ein Schnitt 800 Dollar kostet: die Finanzkapriolen des
einen Prozent fungieren als Sehenswürdigkeiten.
In ihrem groß an die Wand geschlagenen Kredo behaupten die Veranstalter der
Fashion Week, deren Schauen zukünftig in den Hudson Yards stattfinden
werden, dass „Inklusivität nie aus der Mode kommt“. Doch das in acht Jahren
aufgetürmte Viertel ist nichts anderes als eine himmelschreiende
Manifestierung gesellschaftlicher Ungleichheit.
Die Stadt hat ihr Mandat, dem gesamten Spektrum ihrer Bevölkerung ein Dach
über dem Kopf zu verschaffen, einer Fata Morgana für Milliardäre geopfert.
Die wenigsten Architekturfirmen können heute ein Wohnungsbauportfolio
vorweisen, und die attraktivsten Exemplare alter Bausubstanz für die
weniger Wohlhabenden werden heimlich an die Mittelklasse verhökert.
Stadtplanung im Sinne funktionaler Nachbarschaften für gemischte
Einkommensgruppen gibt es nicht mehr, für das Prekariat werden Zellen von
zwanzig Quadratmetern erdacht.
## Steuergelder für das Luxusobjekt
Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung bedürfte es des Bruttosozialproduktes
von Bahrain, um die Wohnungsnot für die 99 Prozent zu beheben. Stattdessen
bezuschusste die Stadt die Eroberung des letzten unbebauten Freiraums in
Manhattan mit Steuergeldern in Höhe von sieben Milliarden Dollar. Zur
Rechtfertigung dieser „Sozialhilfe für Milliardäre“ bedurfte es der
Bereitstellung ganzer vierhundert preisgünstiger Wohnungen, deren Mieter
jedoch einen separaten Eingang benutzen müssen.
Dieser Realität wird man sich im ersten Hotel des Fitness-Giganten Equinox
hinter schalldichten Wänden und Verdunklungsjalousien wie für einen
Luftangriff mühelos verschließen können. Der ab Juni zwischen der 24. und
32. Etage von 35 Hudson Yard angesiedelte Körperkulttempel offeriert seinen
verwöhnten Gästen Bäder mit drei „Regenwaldduschköpfen“, einen Außenpo…
mit Blick auf den Fluss, „adaptogene Superlattes“ und „high-intensity
Martinis“ sowie eine Krankenschwester, die intravenöse Hangover-Helpers
verabreicht. Die Preisskala beginnt bei $ 700.
Als Antidot zu den omnipräsenten Rolltreppen und Aufzügen ihrer vertikalen
Halluzination haben die Masterplaner den Wettbewerbsbeitrag des britischen
Designers Thomas Heatherwick zur Unterhaltung der Touristen auserkoren. Am
Fuße seines riesigen, sich nach oben erweiterten Korbes aus wabenförmig
angeordneten Treppen stehen Leute Schlange, um sich klopfenden Herzens aus
der Trance des Kaufhausbesuchs wachzurütteln – mit ihrem Auf und Ab von
2.500 Stufen ist die sogenannte interaktive Skulptur das zwingende
Gegenstück zu all den Rolltreppen und Aufzügen.
Zugleich hält die auf Hochglanz polierte Kupferverkleidung der angeblich
von indischen Stufenbrunnen inspirierten Konstruktion der Nachbarschaft
einen Zerrspiegel von unzähligen Facetten vor – ein für Instagram
geschaffenes Schaustück. Um die Erwartung zu steigern, wurde diese
200-Millionen-Dollar-Kirmesattraktion unter strikter Geheimhaltung hinter
einem hohen Bauzaun errichtet.
Wenn man atemlos auf dem obersten Rand der Vessel ankommt, eröffnet sich
ein großartiger Blick auf den Hudson, aber auch auf das Zugdepot, das die
städtische Transportation Authority Anfang der 80er Jahre an diesem
brachliegenden Ort etablierte. Dank des funktionalen Betriebshofs blieb die
Gegend lange vor der Erschließung von Immobilienspekulanten verschont, doch
waren sich die für das Transitprojekt Verantwortlichen schon damals der
wertvollen Luftrechte bewusst und legten die Schienen mit genügend Abstand,
um Pfeiler für eine Plattform zu errichten. Eine Milliarde verschlang das
Fundament, auf dem nun sechs Wolkenkratzer stehen. In der zweiten Phase des
Mammutprojekts, das 2026 abgeschlossen sein soll, verschwindet auch der
westliche Teil des Depots unter dem Deck und wird mit weiteren Türmen
bebaut.
Damit ist dann auch die schöne Aussicht zugestellt, allerdings mit einer
Kollektion erlesener Kreationen von Frank Gehry, Herzog & de Meuron und
Santiago Calatrava, die sich den bereits ganz oder fast fertigen Bauwerken
von SOM, KPF und Norman Foster hinzugesellen – schimmernde Glasfigurinen
von monumentalen Dimensionen. Im Unterschied zur vierzig Jahre älteren
Battery Park City, deren Planer das Viertel am Südwestende Manhattans an
das Straßenraster anschlossen, oder zum Rockefeller Center, das sich in den
30er Jahren als homogene Komposition in die Stadtlandschaft von Midtown
integrierte, besteht in den Hudson Yards jeder einzelne Turm auf seiner
Einzigartigkeit, als handele es sich um ein Architekturmuseum.
## Kulturzentrum inclusive
Die noch unfertige dreieckige Aussichtsplattform – genannt „The Edge“ –
ragt wie das Segel eines gekenterten Bootes aus der Fassade von 30 Hudson
Yards und kehrt dem neuen Quartier den Rücken zu: Die Schöpfer des
gefährlich anmutenden Balkons bevorzugen das schwindelerweckende Panorama
des alten, legendären, geliebten Steindschungels von New York, auf
Augenhöhe mit dem Empire State Building. Vermutlich wird keines der neuen
Gebäude je dessen ikonischen Status erreichen.
Ohne ein anspruchsvolles Kulturzentrum wäre der Hudson-Yards-Komplex als
Wohn-, Arbeits- und Life-Style-Maschine natürlich unvollständig, und so
wurde das hochkarätige Architektenteam Diller Scofidio + Renfro, das seinen
Ruhm nicht zuletzt dem Entwurf für die populäre High Line verdankt, zur
Erschaffung eines den restlichen Bauobjekten ebenbürtigen Unikats
angeheuert: im Einklang mit der unterirdischen Dynamik eines aktiven
Zugdepots und wohl auch im Geiste der selbstbewusst rastlosen City,
konzipierte das Avantgardeteam ein multifunktionales Zentrum, das sich bei
Bedarf – zum Beispiel bei einem Konzert von Björk – wie ein riesiger Waggon
ausfahren lässt.
Bei geringerem Andrang zieht sich der von einer leichten, silbrigen
Polymerhaut wie von einem gesteppten Plumeau zugedeckte Bau zur Hälfte in
sein Ankerhochhaus zurück. Unter der Leitung des Kulturveteranen Alex Pooth
sind im „Shed“ nicht nur Künstler wie Gerhard Richter und Musiker wie Steve
Reich zu sehen und zu hören, sondern das ambitionierte Programm holt auch
Jugendliche aus New Yorks vernachlässigten Nachbarschaften in den mit
Steuergeldern von 500 Millionen Dollar subventionierten „Schuppen“. Dort
haben sie Gelegenheit, virtuose neue Kunstformen wie „Flex“ – eine an die
Verrenkungskünste von Houdini und an Yogis erinnernde Tanzpraxis aus
Brooklyn – vorzuführen. Oder eine Kung-Fu-Oper über chinesische Immigranten
an der anderen Endstation der Nr. 7 U-Bahn-Linie in Queens.
Doch eigentlich bewegen sich die jungen, großartigen Talente hier auf
Feindesland: in den Hudson Yards wurden achtstellige Summen in Glamour
investiert, die zumindest teilweise ihren verkommenen Vierteln zustehen.
Im Oktober wird The Shed der 88-jährigen Künstlerin, Philosophin,
Wissenschaftlerin und Ökologin Agnes Denes eine Ausstellung widmen. Im Mai
1982 pflanzte die gebürtige Ungarin ein Weizenfeld auf dem Neuland, das
Manhattan aus den Ausschachtungen für die Fundamente des World Trade
Centers zu dessen Füßen hinzugefügt worden war und wo bald darauf die
Battery City entstehen sollte. Doch bis zur Ernte im August desselben
Jahres schenkte Denes der Stadt ein wildes, subversives, unvergessliches
Bild.
Die Erbauer der Hudson Yards behaupten, dass mit ihrer Kolonisierung des
letzten unbebauten Territoriums von Manhattan nichts als ein Niemandsland
verlorengegangen sei. Denes erinnert daran, dass die Imagination des
Unwahrscheinlichen der Wirklichkeit aus Glas und Stein weit überlegen sein
kann.
11 Jan 2020
## AUTOREN
Claudia Steinberg
## TAGS
Manhattan
Architektur
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