# taz.de -- Ölpest an Brasiliens Küste: Flecken am Strand | |
> Ist es Öl aus der Tiefsee, wie vermutet? Trägt Greenpeace die Schuld? | |
> Niemand kennt den Grund der Ölpest. Für die Bewohner ist sie eine | |
> Katastrophe | |
Bild: Das Öl am Strand ist real, woher es kommt bis heute unklar | |
ARACAJÁ taz | An einem Septembermorgen sah Alysson do Carmo Conceição die | |
schwarzen Klumpen zum ersten Mal. Wie jeden Morgen fuhr er mit seinem | |
Motorrad entlang des Atalaia-Strands zur Arbeit. Doch irgendetwas war | |
anders. Conceição hielt an und ging zum Strand hinunter. „Der Sand war voll | |
mit Ölflecken“, erinnert sich der Restaurantbesitzer aus dem nordöstlichen | |
Bundesstaat Sergipe. „Ich hätte damals nicht gedacht, dass das Öl unser | |
Leben so sehr verändern wird.“ | |
Nach den Waldbränden im Amazonas steckt Brasilien in der nächsten | |
Umweltkatastrophe: Seit Monaten ist der Nordosten von einer mysteriösen | |
Ölpest betroffen. Riesige Ölteppiche wurden an viele Strände gespült. Das | |
Öl hat alle neun Bundesstaaten des Nordostens und mittlerweile sogar die | |
Küste der zentral gelegenen Bundesstaaten erreicht. Expert*innen sprechen | |
von der schwersten Umweltkatastrophen in der Geschichte Brasiliens. | |
Besonders hart getroffen hat es Sergipe, den kleinsten Bundesstaat | |
Brasiliens. Der Atalaia-Strand in der Landeshauptstadt Aracaju liegt zehn | |
Kilometer vom Zentrum entfernt. An der sechs Kilometer langen, mit Palmen | |
gesäumten Promenade reihen sich kleine Bars an Kokosnussbuden und in die | |
Jahre gekommene Hotels. | |
Gegenüber einer feuerroten Krabbenstatue liegt das Restaurant Bagatelle, | |
das Conceição vor vier Jahren eröffnet hat. Jeden Abend gibt es hier | |
brasilianische Live-Musik und laut Eigenwerbung den besten Fischeintopf der | |
Stadt. | |
## Die Touristen kommen nicht mehr | |
Alysson do Carmo Conceição, 35, sportliche Brille, bullige Statur, wird von | |
allen nur „Totenkopf“ genannt. Er begrüßt seine Gäste mit einem festen | |
Handschlag. „Im letzten Jahr um diese Zeit war hier alles voll“, sagt er | |
und zeigt auf den Außenbereich seines spärlich gefüllten Restaurants. | |
„Wegen des Öls kommen die Touristen nicht mehr nach Sergipe.“ Mindestens 40 | |
Prozent Einbußen hat er in den letzten Wochen gemacht. Obwohl die | |
Hochsaison begonnen hat, konnte Conceição keine neuen Mitarbeiter*innen | |
einstellen. Wie es für ihn weitergeht, wenn die Tourist*innen weiterhin | |
fernbleiben? „Darüber will ich mir gerade noch keine Gedanken machen.“ | |
Sergipe lebt vom Tourismus. Die Traumstrände mit schneeweißem Sand, die | |
tropische Hitze und niedrigen Preise locken normalerweise ab Oktober | |
Hunderttausende Tourist*innen an. Doch seit das Öl Sergipe erreicht hat, | |
bleiben die Urlauber weg. Genaue Zahlen will die Landesregierung nicht | |
veröffentlichen. Hotelbesitzer*innen berichten jedoch, dass bis zu 60 | |
Prozent der Zimmer storniert worden seien. Die meisten Restaurants und | |
Geschäfte entlang der Atalaia-Promenade sind leer. Die pastellfarbenen, mit | |
glücklichen Delphinen bemalten Strandbuden wirken wie ausgestorben. | |
Der Regierung des ultrarechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro | |
wird Untätigkeit vorgeworfen. „Sie haben uns einfach im Stich gelassen“, | |
meint Restaurantbesitzer Conceição. Für viele kommt das nicht von ungefähr. | |
Im wohlhabenderen Süden blicken viele abfällig auf die armen Regionen | |
herunter. Zudem wird vermutet, dass sich die Regierung für die Wahlschlappe | |
im vergangenen Jahr rächen will. Bei der Stichwahl für die Präsidentschaft | |
verlor Bolsonaro in allen Bundesstaaten des Nordostens gegen den Kandidaten | |
der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Conceição meint: „Wäre das Öl an | |
der Copacabana oder den Stränden von São Paulo angespült worden, hätte die | |
Regierung viel früher gehandelt.“ | |
Doch die Region ist an Krisen gewöhnt und hat Wege gefunden, mit ihnen | |
umzugehen – auch dieses Mal. An vielen Orten organisieren sich | |
Küstenbewohner*innen über die sozialen Medien und übernehmen die Reinigung | |
der Strände. Videos zeigen, wie Freiwillige knietief im schwarzen Schlamm | |
stehen und die Ölklumpen mit bloßen Händen und ohne Schutzkleidung | |
wegtragen. Die Devise: Wenn die Regierung uns nicht hilft, nehmen wir die | |
Sache eben in die eigene Hand. Die Ölpest ist somit mehr als eine | |
Umweltkatastrophe, sie ist Geschichte eines geteilten Landes. Sie ist aber | |
auch eine Geschichte von Widerstand und Solidarität. | |
Ubiratan und Aparecida Santos leben in einem armen Randgebiet von Aracaju, | |
rund 16 Kilometer vom Atalaia-Strand entfernt. Jeden Morgen, wenn es noch | |
dunkel ist, macht sich das ältere Ehepaar auf den Weg zum Meer. Die beiden | |
vermieten Strandliegen und Sonnenschirme, verkaufen Getränke und Snacks. | |
„Ohne dieses verdammte Öl wäre hier alles voll. Heute haben wir so gut wie | |
nichts verdient“, schimpft der 61-jährige Ubiratan Santos, dessen Haut von | |
der Sonne gezeichnet ist. Trotz blauen Himmels und Sonnenscheins sind nur | |
wenige Stühle belegt. „Im letzten Jahr um diese Zeit war hier alles voll.“ | |
80 Prozent weniger Umsatz machen sie. Das reiche kaum zum Überleben, beide | |
beziehen keine Rente. „Wir wissen nicht, was wir tun sollen, wenn die | |
Touristen nicht wiederkommen“, sagt die 59-Jährige Aparecida Santos, | |
während sie eine Kokosnuss mit einer Machete knackt. „Aber das Letzte, was | |
wir tun werden, ist, aufzugeben.“ | |
Zwar wird mittlerweile weniger Öl angespült, und die Landesregierung wird | |
nicht müde, zu betonen, dass die Strände wieder sauber seien. Doch an | |
vielen Stellen des Atalaia-Strands ist der Sand immer noch mit kleinen | |
Ölklumpen übersät. Am Nachmittag sieht man Strandgäste, die ihre schwarzen | |
Fußsohlen schrubben. Ein großer Teil des Öls befindet sich unter der | |
Oberfläche des Sands. Geologen vermuten, dass die Reinigung mehrere Jahre | |
dauern könnte. Darüber, ob das Öl gefährlich für Menschen ist, sind sich | |
Experten nicht einig. Das liegt auch daran, dass immer noch unklar ist, | |
woher es überhaupt kommt. | |
## Woher kommt das verfluchte Öl? | |
Der anfängliche Verdacht war, dass das Öl aus einer brasilianischen Leitung | |
oder von Off-shore-Plattformen stamme. In der Tiefsee vor der Küste | |
Brasiliens schlummern gewaltige Rohstoffschätze. Am Horizont des | |
Atalaia-Strands sieht man die Umrisse von Ölplattformen, die das schwarze | |
Gold unter dem Meeresgrund fördern. Viele Menschen in der Region arbeiten | |
in der Ölindustrie. Untersuchungen des halbstaatlichen Konzerns Petrobras | |
haben jedoch gezeigt, dass das Öl wahrscheinlich nicht aus Brasilien kommt. | |
Auch die Vermutungen, es sei aus einem gesunkenen deutschen Frachtschiff | |
aus dem Zweiten Weltkrieg oder einem griechischen Tanker entlaufen, wurden | |
nicht bestätigt. | |
Die brasilianische Regierung präsentierte schnell einen Verdächtigen: den | |
Nachbarn Venezuela. Die Maduro-Regierung habe mit Absicht das Öl | |
freigesetzt, um Brasilien zu schaden, hieß es. Venezuela wies jegliche | |
Verantwortung von sich und erklärte, dass es keine Lecks bei Tankern oder | |
auf Plattformen gegeben habe. Jedoch könnte das Öl beim Umfüllen von | |
venezolanischen Schmuggelschiffen auf hoher See ausgelaufen sein. Durch die | |
Embargo-Politik gegen Venezuela floriert der illegale Ölhandel. Doch auch | |
dies halten viele Experten für unwahrscheinlich. Eine besonders gewagte | |
These stellte Umweltminister Ricardo Salles auf: Dieser verdächtigte in den | |
sozialen Medien die Umweltschutzorganisation Greenpeace, hinter der Ölpest | |
zu stehen. Nicht wenige vermuten, dass die Regierung mit solchen | |
abenteuerlustigen Verlautbarungen auch von eigenen Verfehlungen ablenken | |
will. | |
Das denkt auch Kitty Lima, 32, blond gefärbte Haare, große Brille. Die | |
Politikerin der Mitte-links-Partei Cidadania engagiert sich seit vielen | |
Jahren für den Umweltschutz in ihrem Heimatbundesstaat. Als das Öl Sergipe | |
erreichte, organisierte sie über die sozialen Medien Strandreinigungen mit | |
Freiwilligen. Ein mit dramatischer Rockmusik unterlegtes Videos zeigt Lima | |
und Kolleg*innen, die mit verschmutzten Plastikhandschuhen den Strand | |
entlang marschieren. | |
„Dass die Regierung sich nicht um die Umwelt kümmert, war uns klar“, sagt | |
Lima. „Aber dass sie bei dieser Katastrophe so tatenlos zusieht, hätten wir | |
nicht gedacht.“ Weder besuchte Präsident Bolsonaro die betroffenen | |
Regionen, noch traf er sich mit den Gouverneuren der Bundesstaaten. | |
Immerhin gibt es nach Aussage von Kitty Lima mittlerweile in der | |
Landeshauptstadt Aracaju Unterstützung von der Regierung. Das Militär ist | |
im Einsatz, über dem Atalaia-Strand kreisen regelmäßig Armeehubschrauber. | |
Mit orangefarbenen Ganzkörperanzügen, Schubkarren und Spaten ausgerüstete | |
Reinigungstrupps laufen täglich den Strand entlang und reinigen den Sand. | |
An anderen, weniger bekannten Stränden seien die Bewohner*innen aber | |
weiterhin auf sich alleine gestellt, kritisiert Lima. Die Landesregierung | |
von Sergipe sei mit der Krise völlig überfordert und habe viel zu spät den | |
Ausnahmezustand ausgerufen. | |
Das Öl hätte im Wasser aufgehalten werden können, betonen Expert*innen. Da | |
jedoch keine Schutznetze im Meer aufgebaut wurden, ist Öl bereits in Flüsse | |
und Mangroven vorgedrungen. „Es drohen irreparable Schäden des gesamten | |
Ökosystems“, meint Rafaelle Monteiro. Die 33-Jährige ist direkt am | |
Atalaia-Strand aufgewachsen und arbeitet als Tierärztin in der „Stiftung | |
Meeressäuger“. | |
Das Büro der Nichtregierungsorganisation (NGO) befindet sich in einem | |
verschlafenen Vorort Aracajus, umgeben von schwer bewachten Häusern, | |
Weideflächen und kleinen Bars. Seit zehn Jahren kümmert man sich hier um | |
kranke Meerestiere. Seit Beginn der Ölpest sind die Mitarbeiter*innen im | |
Dauereinsatz. Schon zuvor hätten sie immer mal wieder mit Öl verschmutzte | |
Tiere behandelt, erklärt Monteiro. Doch so schlimm wie dieses Mal sei es | |
noch nie gewesen. Das Öl sei dickflüssiger, schwimme deshalb nicht an der | |
Wasseroberfläche und sei schwieriger zu sichten. „Und durch die Konsistenz | |
des Öls ist es auch viel komplizierter, die Tiere zu reinigen.“ | |
Im Hof der Hilfsorganisation stehen blaue Container, die den | |
Mitarbeiter*innen als Waschstationen dienen. In mehreren, mit Planen | |
überdeckten Becken schwimmen Meeresschildkröten. Monteiro beugt sich über | |
eines der Becken, schnappt sich gekonnt eine Schildkröte und hievt sie | |
zusammen mit einem Kollegen auf einen Tisch. „Sie war komplett mit Öl | |
verdeckt“, sagt Monteiro und zeigt auf das Tier, das panisch umherwackelt. | |
„Wäre sie nicht zu uns gekommen, wäre sie mit Sicherheit gestorben.“ Die | |
NGO hat neben Schildkröten auch Delphine und Vögel von Öl befreit. Tausende | |
Tiere sind jedoch an der Ölpest verendet. Vor allem ein Tier wird zum | |
Problem für die Region: der Fisch. | |
Eine buckelige Landstraße führt vom Atalaia-Strand entlang verschlafener | |
Küstendörfer und dichter Palmenwälder in den Süden Sergipes. Der Praia do | |
Saco liegt direkt an der Landesgrenze zu Bahia und wurde einmal zu den | |
hundert schönsten Stränden der Welt gewählt. Auf einer paradiesischen | |
Landzunge steht Joel Perreira mit den Füßen im glitzernden Wasser. Der | |
49-Jährige ist Fischer und in einem kleinen Dorf ganz in der Nähe | |
aufgewachsen. Bereits sein Vater und Großvater verdienten ihr Geld mit der | |
Fischerei. Heute fischt er vor allem Sardinen und Meeräschen. Während | |
Perreira ein Netz an Land zieht, sagt er: „Das Öl zerstört unsere | |
Existenz.“ Aus Angst, vergiftet zu werden, kaufe kaum noch jemand seinen | |
Fisch. Der nahe gelegene Fischmarkt sei so gut wie tot. „Ich weiß nicht, | |
wie ich meine Familie ernähren soll.“ | |
Allein in Sergipe bedroht das Öl die Lebensgrundlage von mehr als 20.000 | |
Fischer*innen. Einige Familien würden sogar hungern, heißt es. Es kam zu | |
Protesten. Daraufhin sagte die Bundesregierung 7.000 Fischer*innen eine | |
Zuzahlung von umrechnet 430 Euro zu. Das sei viel zu wenig, meint Perreira, | |
aber besser als nichts. Bisher hat aber noch niemand das Geld gesehen. „Ich | |
bin mir sicher,“ sagt Perreira und schnappt sich einen zappelnden Fisch aus | |
dem Netz, „dass er hier keine Risiken für Menschen darstellt.“ Auch die | |
Landesregierung erklärte unlängst, dass der Fisch aus Sergipe ohne Bedenken | |
gegessen werden könne. Andere Stellen warnen jedoch weiterhin vor dem | |
Verzehr. | |
Restaurantbesitzer Conceição kennt die Debatte über den Fisch. „Die | |
Touristen fragen mich als Erstes, ob mein Fisch und meine Meeresfrüchte aus | |
Sergipe kommen.“ Eigentlich würde er gern die Fischer*innen der Region | |
unterstützen, doch das Risiko sei ihm zu groß. Er kauft seinen Fisch | |
mittlerweile in Rio de Janeiro. | |
3 Jan 2020 | |
## AUTOREN | |
Niklas Franzen | |
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Lesestück Recherche und Reportage | |
Brasilien | |
Ölpest | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Brasilien | |
Brasilien | |
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