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# taz.de -- Gewalt in Leipzig-Connewitz an Silvester: Eskalation mit Ansage
> In Leipzig werden PolizistInnen angegriffen – und eine neue Debatte über
> linke Gewalt entbrennt. Einiges bleibt widersprüchlich.
Bild: Ausgangspunkt der Eskalation? Der abgebrannte Einkaufswagen im Polizeigew…
Leipzig/Berlin taz | Am Donnerstagmittag schaltet sich dann
Bundesinnenminister Horst Seehofer in die Connewitz-Debatte ein. „Den
brutalen Angriff auf Polizeibeamte in der Neujahrsnacht verurteile ich auf
das Schärfste“, erklärt der CSU-Mann. „Diese Tat zeigt: Menschenverachten…
Gewalt geht auch von Linksextremisten aus.“ Die Gesellschaft müsse
„geschlossen“ hinter den PolizistInnen stehen.
Da also hat die Silvesternacht in Leipzig-Connewitz die Bundespolitik
erreicht. Schon zuvor hatte Leipzigs Bürgermeister Burkhard Jung (SPD) von
einem „heftigen kriminellen Gewaltausbruch“ gesprochen. Und Sachsens
Innenminister Roland Wöller (CDU) kritisierte „bewusste und gezielte
Angriffe auf Menschenleben“. Was war passiert?
Das freilich wurde auch am Donnerstag nicht gänzlich klar. Noch in der
Silvesternacht hatte die Leipziger Polizei eine erste Darstellung
veröffentlicht. Demnach hatten sich um Mitternacht mehr als 1.000 Menschen
am Connewitzer Kreuz, einer zentralen Kreuzung des Stadtteils, versammelt.
Gegen 0.15 Uhr seien dann PolizistInnen „massiv mit Steinen, Flaschen und
Feuerwerkskörpern angegriffen“ worden. Einige Angreifer hätten versucht,
einen brennenden Einkaufswagen „mitten in eine Einheit der
Bereitschaftspolizei zu schieben“. Dabei sei ein 38-jähriger Beamter so
schwer verletzt worden, dass er das Bewusstsein verlor und im Krankenhaus
„notoperiert“ werden musste.
Am Donnerstagnachmittag legte das sächsische LKA mit einer Mitteilung nach,
mit mehr Details – und teils Abschwächungen. Demnach sei der brennende
Einkaufswagen nur noch „in Richtung“ der Polizeibeamten geschoben worden.
Beim Versuch, einen der Täter festzunehmen, seien drei Polizisten durch
etwa 20 bis 30 teils vermummte Personen angegriffen worden. Die Täter
hätten den Beamten die Helme von den Köpfen gerissen, diese zu Fall
gebracht und „wirkten massiv auf sie ein“. Von einer Notoperation des
schwer verletzten Beamten ist hier nun keine Rede mehr, sondern von einer
stationären Krankenhausaufnahme. Auch die anderen beiden Beamten seien
„nicht unerheblich verletzt worden“.
Und die Ermittler hängen den Fall hoch. Wurde wegen des Angriffs auf den
38-Jährigen zunächst wegen versuchten Totschlags ermittelt, wurde dies noch
am Mittwochabend auf versuchten Mord hochgestuft. Und die politische
Debatte nahm ihren Lauf.
## Zwei Versionen: Wer hat recht?
Dabei schildern mehrere Augenzeugen die Vorgänge etwas anders. Demnach sei
der als Polizeiauto dekorierte Einkaufswagen angezündet und rund 30 Meter
von den Polizeieinheiten entfernt auf der Kreuzung abgestellt worden. Dies
zeigen auch Fotos und Videos, die der taz vorliegen. Wenig später sei die
Polizei aus einer kleinen Gruppe heraus mit Böllern beworfen worden. Als
daraufhin PolizistInnen in die Menge stürmten, folgte die Situation, in der
der Beamte angegriffen und verletzt wurde. Die Augenzeugen berichten, sie
hätten gesehen, dass der Polizist seinen Helm noch trug, als er von
Kollegen weggetragen wurde.
Auch blieb unklar, auf welche Weise und wie schwer verletzt der Beamte
wurde. Ab Mittwochabend schrieben zahlreiche Medien unter Berufung auf
Polizeikreise von einer schweren Ohrverletzung und weiteren
Kopfverletzungen. “Leipziger Polizist fast das Ohr weggesprengt“,
schlagzeilte Focus Online.
In Krankenhauskreisen zeigte sich man sich verwundert über diese
Darstellung und die Polizeimeldung von einer „Notoperation“. Von dort
erfuhr die taz, dass es einen Eingriff an der Ohrmuschel des Beamten unter
lokaler Betäubung gegeben habe. Der Mann sollte demnach am Donnerstag oder
Freitag wieder entlassen werden. Lebensgefahr oder drohender Gehörverlust
hätten nicht bestanden.
## „Rabiates Vorgehen“ der Polizei
Auch die [1][Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel], die ihr Büro direkt
am Connewitzer Kreuz hat und dort Silvester verbrachte, hat Fragen. Sie
habe sowohl Angriffe auf Polizisten als auch „rabiates Vorgehen“ der
Polizei erlebt, sagt sie der taz. Immer wieder seien Polizeigruppen in
Menschentrauben gelaufen, hätten dabei Personen umgerannt und verletzt.
Daraufhin sei die Polizei beworfen worden.
Nagel spricht von einer „Eskalationsspirale“, die „durch eine waghalsige
Einsatzstrategie befeuert wurde“. Anders als in den Vorjahren habe die
Polizei nicht auf Deeskalation gesetzt. „Der Polizeipräsident trägt hier
klar Verantwortung.“
Jener Polizeichef, Torsten Schultze, hatte zuvor klare Worte verloren.
„Polizeibeamte sind Menschen. Es ist erschreckend, wie skrupellos Personen
in der Silvesternacht am Connewitzer Kreuz durch offensichtlich
organisierte Angriffe schwerste Verletzungen von Menschen verursachen. Es
gibt keine rechtsfreien Räume.“ Bemerkenswert: Schultze benannte in seiner
Mitteilung auch einen Kritiker, den linken Aktivisten Marco Bras dos
Santos, namentlich. Dass dieser via Twitter die Angriffe rechtfertige, sei
„erschreckend“.
All dies wirkt wie eine Eskalation mit Ansage. Schon seit Wochen verüben
mutmaßlich Autonome in Leipzig Straftaten: Sie zündeten Baukräne an,
attackierten Polizisten, griffen im November auch eine Immobilienmaklerin
an. Polizeichef Schultze, seit Jahresbeginn 2019 im Amt, setzte wiederum
auf eine harte Linie gegen die Szene. Und im Dezember [2][richtete das LKA
eigens eine „Soko Linx“ ein], um linke Straftäter aufzuspüren. Sie
ermittelt nun auch zur Silvesternacht.
## Schatten des Wahlkampfs
Schon vor dem Jahreswechsel hatten beide Seiten aufgemuskelt. Bereits am
Sonntag brannten auf einem Leipziger Polizeigelände mehrere Autos und ein
Stromverteilerkasten. In einem Bekennerschreiben heißt es, die „Schweine“
hätten zu Silvester eine Falle für Autonome vorbereitet. „Daher haben wir
Silvester ein paar Tage vorverlegt.“
Die Polizei wiederum verteilte schon vor der Silvesternacht Flugblätter in
Connewitz, in denen sie einen „Polizeieinsatz zur Gewährleistung der
öffentlichen Sicherheit“ ankündigte. Am Abend dann kreiste sie mit einem
Hubschrauber über dem Stadtteil und führte laut Augenzeugen
verdachtsunabhängige Kontrollen durch. Am Ende stand die erwartete
Eskalation.
Und nun folgt die politische Debatte. Als eine der ersten forderte die
Leipziger CDU Konsequenzen: „Lange genug haben OB Jung und seine Koalition
der Verharmlosung nichts gegen diese demokratiefeindlichen Strukturen
unternommen.“ Eine erwartbare Attacke – im Februar findet in Leipzig die
Bürgermeisterwahl statt. Amtsinhaber Jung widersprach. „Ich verurteile
diese Handlungen aus tiefstem Herzen.“ Die Polizei müsse „diese brutalen
Gewalttäter schnell fassen“. Auch Sachsens Innenminister Wöller versprach
„alle Härte des Rechtsstaats“.
Noch indes sind Tatverdächtige nicht ermittelt. Zwar nahm die Polizei noch
in der Nacht eine Frauen und neun Männer vorläufig fest. Verdächtig für den
Mordversuch sind sie aber nicht. Ihnen werden gefährliche
Körperverletzungen, Widerstand gegen PolizistInnen und tätliche Angriffe
vorgeworfen. Sechs wurden schließlich freigelassen, vier wurden Haftbefehle
beantragt.
## Vorgehen auch gegen Sympathisanten?
Auf Bundesebene warnte derweil nicht nur Seehofer. Auch der
CDU-Innenexperte Armin Schuster sprach von vorhersehbaren „Gewaltexzessen“
in Connewitz. Es stelle sich die Frage, ob die Verantwortlichen in Leipzig
„noch Recht und Ordnung durchsetzen können und wollen“. Die Polizei wäre …
der Lage das Problem zu lösen, brauche aber dafür politische Rückendeckung,
so Schuster zur taz. „Zuschauendes Deeskalieren ist oft genug gescheitert,
weil Extremisten das bewusst falsch verstehen, ob in Leipzig, Berlin oder
Hamburg.“
Schuster forderte auch ein Vorgehen gegen Sympathisanten: „Ich gehe davon
aus, dass der Verfassungsschutz sich intensiv auch diejenigen anschaut, die
den Extremisten durch ihre Sympathiebekundungen mindestens psychische
Beihilfe leisten.“ Das gelte auch für Abgeordnete.
Auch der Unionsfraktionsvize Thorsten Frei sekundierte, die Ereignisse in
Leipzig zeigten, „dass der Linksextremismus unverändert eine große Gefahr
für die öffentliche Ordnung in unserem Land ist“. Die Behörden bräuchten
daher auch weiter „starke Kapazitäten zur Beobachtung und Ansprache der
linken Militanz“.
Schon Ende Dezember hatte auch der Bundesverfassungsschutz vor einem
erstarkten Linksextremismus gewarnt. In den vergangenen zwei Monaten hätten
sich die „Anzahl und Qualität der Straftaten“ der Szene erhöht, hieß es …
einer Einschätzung. Fast täglich gebe es derzeit Delikte gegen staatliche
Einrichtungen, politische Gegner oder Firmen. Diese entstünden neben dem
Anti-Nazi-Kampf inzwischen vor allem im Einsatz für selbsternannte
„Freiräume“.
## Einen Nerv getroffen
In Leipzig werde mit [3][Connewitz] gleich ein ganzer Stadtteil „regelmäßig
gegen vermeintliche ‚Eindringlinge‘ von außen verteidigt“, so der
Verfassungsschutz. Es gebe eine „fortschreitende Erosion des Szenekonsenses
einer Ablehnung schwerster Gewalttaten beziehungsweise des Einsatzes von
gezielter Gewalt gegen Personen“. Ein Ende der Gewalt sei „nicht
abzusehen“.
Am Donnerstag meldeten sich aber auch Gegenstimmen. So erklärten die
sächsischen Linken-Chefs Susanne Schaper und Stefan Hartmann: „Angriffe auf
Menschen lehnen wir entschieden ab, ohne Wenn und Aber.“ Eine andere Frage
aber sei die Bewertung der Polizeitaktik in Connewitz. So sei es in Berlin
gelungen, den 1. Mai mit Deeskalation zu entschärfen. „Das zeigt:
Deeskalation hilft letztlich allen Beteiligten, inklusive der Polizei“, so
Hartmann.
Marco Bras dos Santos, den Polizeichef Schultze anging, wiederum
kritisierte seinen Kritiker. Seit Schultze im Amt sei, würden
Demonstrationen angegriffen oder diese in Pressemitteilungen
herabgewürdigt. Dos Santos hatte in der Silvesternacht via Twitter den
Großeinsatz der Polizei kritisiert und bemerkt, wie Schultze „seine Leute
verheizt“. In der Polizeimeldung werde nun auch er „stark verkürzt“
wiedergegeben, bemerkt dos Santos. „Aber wenn ich nun namentlich genannt
werde, scheine ich den Nerv getroffen zu haben.“
2 Jan 2020
## LINKS
[1] /Linken-Abgeordnete-Juliane-Nagel/!5613020
[2] /Programm-gegen-linke-Gewalt/!5636618
[3] /Kampf-gegen-Mietenexplosion/!5635030
## AUTOREN
Aiko Kempen
Konrad Litschko
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