# taz.de -- Vogelwartin übers Alleinsein: „Einmal bin ich hochgeschreckt“ | |
> Anne de Walmont hat sieben Monate auf der Insel Trischen mitten im | |
> Wattenmeer Vögel gezählt und dabei kaum eine Menschenseele zu Gesicht | |
> bekommen. | |
Bild: Kein Mensch weit und breit: die Hütte des Vogelwarts auf der Insel Trisc… | |
taz: Frau de Walmont, wie kann man sich darauf freuen, ein halbes Jahr lang | |
keinen Menschen zu sehen? | |
Anne de Walmont: Ich finde, dass es sehr leicht ist, sich darauf zu freuen. | |
Viele Menschen in der Stadt sind ständig im Stress. Es ist trubelig, es | |
gibt unglaublich viele Einflüsse, viele Menschen. Zu wissen, dass man sich | |
dem für eine gewisse Zeit entziehen kann, finde ich verlockend. | |
Sie hätten aber auch den Horror Vacui bekommen können, gerade weil Sie es | |
als Schneiderin gewöhnt waren, dauernd mit Leuten konfrontiert zu sein. | |
Das wurde ich im Vorfeld oft gefragt. Ich habe mich da aber nicht gesorgt, | |
weil ich mir sicher war, dass ich so etwas sehr gut kann: völlig raus zu | |
sein und mit mir selbst zurechtzukommen. Das ist vielleicht nicht | |
jedermenschs Sache. Für mich war das jedenfalls genau das Richtige. | |
Haben Sie sich psychologisch auf Ihren Aufenthalt vorbereitet? | |
Eigentlich nicht. Ich war im Vorfeld sehr viel mit der fachlichen | |
Vorbereitung beschäftigt: Mir noch ein paar Kenntnisse anzueignen, war | |
wichtig, sodass ich im Kopf sehr darauf fixiert war. So waren dann auch die | |
ersten Tage auf der Insel: Dass ich mich erst mal in meine Aufgaben | |
einarbeiten musste. Das Runterfahren hat ein bisschen gedauert. | |
Was haben Sie gemerkt nach den paar Tagen? | |
Mein Kopf war freier. Ich konnte vor der Hütte sitzen, in die Ferne gucken | |
und nichts weiter tun und denken. In der Stadt war das für mich überhaupt | |
nicht möglich: Egal, wo ich hinguckte, habe ich Dinge gesehen, die entweder | |
schnell an mir vorbeirasten oder die Gedanken ausgelöst haben, sodass ich | |
ständig beschäftigt war im Kopf. Das konnte ich nach einigen Tagen ablegen. | |
Es war sehr schön. | |
Ist denn gar niemand vorbeigekommen in der ganzen Zeit? | |
Doch, denn auf [1][Trischen] gibt es kein Trinkwasser. Ich brauchte auch ab | |
und zu Lebensmittel. Deswegen kam der Inselversorger Axel Rohwedder mit | |
seinem kleinen Motorboot einmal die Woche vorbei, wenn es Wind und Wetter | |
zuließen, und hat mir Trinkwasser in Kanistern und Lebensmittel gebracht, | |
die ich dann über den Strand gezogen habe. Von Zeit zu Zeit kamen auch | |
Fachleute vorbei, um mit mir zusammen Beringungen und Kartierungen | |
vorzunehmen. Ich habe auch nur selten telefoniert. Mein privates Handy | |
hatte dort keinen Empfang und die Nummer des Diensthandys habe ich nur an | |
sehr wenige Menschen rausgegeben. | |
Sie haben einen [2][Blog] gemacht, auf den es auch Reaktionen gab. Wie | |
wichtig war das? | |
Das war super. Ich habe nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen den | |
Blog lesen und nett kommentieren. Das gab mir den Ansporn, immer wieder | |
neue Beiträge einzustellen. Gleichzeitig war es ein bisschen skurril: Ich | |
war da ganz alleine, wusste aber, die Öffentlichkeit kriegt über den Blog | |
und Zeitungsartikel teilweise genau mit, was ich da mache. | |
War das auch ein Zeitvertreib? | |
Als solchen würde ich das nicht bezeichnen, sondern als eine von vielen | |
Aufgaben, die ich hatte. Es war nicht so, dass die große Langeweile | |
ausgebrochen wäre. Es gab immer etwas zu tun, aber ich konnte eben alles | |
sehr in Ruhe machen. | |
Wie sah so ein Tag aus auf Trischen? | |
Je nachdem, was Wind und Wetter und die Vögel so wollten. In der Regel bin | |
ich mit der Sonne aufgestanden, habe ich mir schnell einen Kaffee gekocht | |
und mich dann zwei Stunden vor die Hütte gesetzt und alles notiert, was | |
über die Insel zog. Das waren meine Lieblingsstunden. Danach gab's | |
Frühstück und das, was so anstand. Mal wurden die Salzwiesen kartiert oder | |
die Brutvögel. Mal gab es große Springtiden-Zählungen, bei denen alle Vögel | |
der Insel erfasst wurden. Mal hab' ich einfach so beobachtet und dabei | |
Seehunde gesehen. Manchmal musste ich eine Aufgabe verschieben, weil Sturm | |
war. | |
Hat sich Ihre Beziehung zu den Tieren verändert? | |
Ich habe angefangen, mit den Vögeln zu reden. Wenn mein erster Blick | |
morgens aus dem Fenster auf einen Fitis traf und am Vormorgen hatte da auch | |
ein Fitis gesessen, habe ich laut gedacht: Ach, guten Morgen, schön, dass | |
du auch wieder da bist! Die Vögel waren mir näher, einfach weil ich sie | |
rund um die Uhr beobachtet habe – auch wenn es immer andere Vögel waren. | |
Haben Sie sich trotzdem auch mal richtig einsam gefühlt? | |
Nö. Ich war halt alleine, aber ich war nicht einsam, weil ich ja wusste: | |
Das sind sieben Monate; das ist für mich eine Auszeit, die mit einer sehr | |
guten, sinnvollen Arbeit verbunden ist. Ich wusste, nach sieben Monaten | |
komme ich zurück und die Menschen, die ich vorher um mich hatte, werden | |
wieder da sein und mich genauso gut wieder aufnehmen. | |
Gleichwohl mussten Sie, mit allem, was da passierte, alleine zurechtkommen. | |
Ja, aber ich wusste auch immer, dass ich Menschen im Notfall telefonisch | |
erreichen kann. Axel Rohwedder, der Inselversorger, hatte immer ein offenes | |
Ohr, wenn irgendwas war. Natürlich musste ich mir in bestimmten Situationen | |
überlegen: Wie gehe ich damit um, weil ich niemanden neben mir hatte, mit | |
dem ich mich hätte beraten können oder der hätte mit anpacken können. Aber | |
dafür finden sich immer Lösungen. | |
Hatten Sie auch mal Angst? | |
Angst nicht. Ich bin auch im Dunkeln am Strand lang gelaufen. Darüber habe | |
ich mir keine Gedanken gemacht. Einmal bin ich morgens hochgeschreckt, weil | |
ich ein ungewohntes Geräusch hörte. Man kennt irgendwann alle Geräusche auf | |
der Insel. Ich schreckte hoch und war mir sicher: Es hat jemand an die | |
Hüttentür geklopft. Ich war unglaublich nervös, schaute aus dem Fenster, | |
das in der Tür ist, und sah einen kleinen Vogel, der mit voller Wucht | |
dagegen geflogen ist. | |
Die Insel liegt mitten im Wattenmeer nur wenige Meter über dem | |
Meeresspiegel. Haben Sie eine Sturmflut erlebt? | |
Ein paar Mal hatte ich Land unter. Das war schon ganz beeindruckend. Ich | |
hab mir natürlich vorher die Wasserstandsvorhersage angeschaut und musste | |
entsprechende Vorkehrungen treffen, weil ein paar Sachen unten auf der | |
Salzwiese standen. Die mussten eine Etage höher. Meistens sind Sturmfluten | |
mit starkem Westwind verbunden. Dann tobt westlich der Düne das Meer und | |
nach und nach schiebt sich immer mehr Wasser auf die Insel. Irgendwann | |
ragen nur noch die Hütte und die Dünenkette heraus. Auf der Ostseite ist | |
das Wasser aber fast glatt, weil es durch die Dünen geschützt wird. Land | |
unter war also nicht so spektakulär, wie ich mir das vorgestellt hatte. | |
Kamen Sie sich nicht verloren vor, so ganz alleine auf dem Meer? | |
Ich fand das vor allem beeindruckend. Die Vorstellung, mit der Hütte quasi | |
über dem Meer zu schweben, ist ein gutes Gefühl und aufregend. Meistens war | |
das auch verbunden mit Sonnenschein und das war unglaublich schön. | |
Wonach hatten Sie Sehnsucht? | |
Manchmal nach einem Eiskaffee mit Vanilleeis. Ansonsten fand ich es gut, | |
festzustellen, mit wie wenigen Dingen man auskommt und wie seltsam es ist, | |
in was für einem Überfluss wir leben. | |
War es schwierig zurückzukommen? | |
Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ich habe mich gefreut auf | |
alles, was da eventuell kommen würde, war aber auch nervös, wie das sein | |
würde, wieder in der Stadt zu sein. Ich kam an und war anderthalb Tage noch | |
auf dem Dorf, weil ich fand, eine langsame Eingewöhnung wäre ganz gut. Dann | |
bin ich in die Stadt gefahren und es waren gleich ganz viele Menschen um | |
mich. Es war laut, es waren viele Autos unterwegs. Das war sehr schnell | |
wieder sehr normal. Allerdings sind mir ein paar Sachen aufgefallen, die | |
vorher untergegangen sind, etwa, dass es in Bremen ganz schön stinkt. | |
Manchmal hatte ich das Gefühl, ich möchte gar nicht tief einatmen. Unterm | |
Strich war ich erstaunt, wie wenig Probleme ich hatte, mich wieder | |
einzugewöhnen. | |
Gab es ein Moment der Entfremdung mit Freunden und Bekannten? | |
Nee. Ich war sofort auf einem Geburtstagswochenende und hab da unglaublich | |
viele Leute getroffen und meinte mehrmals an diesen Tagen: Das ist ja | |
verrückt, ich hab das Gefühl, ich war gar nicht weg. Als hätten wir einfach | |
da angeknüpft, wo wir aufgehört haben. Die Insel war auch gar nicht Thema, | |
sondern wir haben über Sachen gesprochen, über die wir sieben Monate vorher | |
auch gesprochen hatten. | |
Nicht alle, die allein sind, fühlen sich einsam. Umgekehrt kann sich einsam | |
fühlen, wer mitten unter Menschen ist. Mehr über die Grenzbereiche eines | |
oft verleugneten Gefühls lesen Sie in der taz am Wochenende oder im | |
[3][eKiosk]. | |
20 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
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