| # taz.de -- Debatte um den Klimawandel: Nicht viel mehr als Visionen | |
| > Die Erderwärmung schreitet schneller voran als berechnet. Eigentlich | |
| > müsste die Menschheit verzweifeln, doch die Verdrängung funktioniert | |
| > bestens. | |
| Bild: Abgestorbene Fichten im Nationalpark Eifel | |
| Die neuesten Studien sind alarmierend: Das Eis auf Grönland schmilzt | |
| bereits jetzt so schnell, wie es ursprünglich für das Jahr 2060 berechnet | |
| war. Gleichzeitig [1][tauen die Permafrostböden] in Sibirien oder Kanada so | |
| rasant, wie es erst für 2090 kalkuliert war. Der Klimawandel überholt die | |
| Menschheit, während diese noch debattiert, wie man ihn aufhalten könnte. | |
| Die Permafrostböden werden so viel Methan und Kohlendioxid freisetzen, wie | |
| die Menschheit momentan in zwei Jahren emittiert. Das mag harmlos klingen – | |
| aber die Atmosphäre ist bereits am Limit. Bisher galt, dass für alle | |
| Ewigkeiten nur noch so viele Treibhausgase ausgestoßen werden dürfen wie | |
| derzeit in acht Jahren. Sonst wird es sehr ungemütlich. Pi mal Daumen folgt | |
| aus den neuen Erkenntnissen über die Permafrostböden, dass die roten Linien | |
| spätestens in sechs Jahren überschritten sind. Das ist 2025. | |
| Es wird gern vergessen: Jedes CO2-Molekül bleibt für Jahrtausende in der | |
| Luft. Es ist nicht harmlos, „eben mal“ mit dem Auto zum Supermarkt zu | |
| fahren. In diesen kurzen Minuten entstehen Treibhausgase, die nie wieder | |
| verschwinden. | |
| Eigentlich müsste die Menschheit verzweifeln, doch die Verdrängung | |
| funktioniert bestens. Überall lassen sich SUVs entdecken, die mit | |
| Kindersitzen ausgestattet sind. Die Besitzer glauben offenbar, dass es die | |
| Zukunft ihres Nachwuchses nicht beeinträchtigt, wenn sie selbst permanent | |
| CO2 durch den Auspuff jagen. | |
| ## Die Debatte um den CO2-Preis ist Mumpitz | |
| Dieses Verdrängen fällt leicht, weil die Klimadebatte so normal wirkt. Die | |
| Treibhausgase werden verhandelt, als wären sie ein Thema wie die | |
| Grundrente. Um kurz bei der Sozialpolitik zu bleiben: Ausgiebigst wurde | |
| debattiert, ob man die Grundrente mit oder ohne Bedürftigkeitsprüfung | |
| einführt. Aber nie war strittig, dass sie die Altersarmut lindert. Der | |
| politische Kampf bewegte sich an der Oberfläche und signalisierte den | |
| Bürgern, dass es eine gute Lösung gibt, an deren Details man noch feilen | |
| muss. | |
| Dieses Muster wird auch bei der Klimadebatte inszeniert: Union und SPD | |
| wollten ursprünglich pro Tonne CO2 ein Strafgeld von 10 Euro erheben, | |
| während die Grünen 40 Euro forderten. Schließlich einigte man sich auf | |
| [2][25 Euro pro Tonne] – woraus viele WählerInnen folgern dürften, dass | |
| dieser Kompromiss der berühmte „richtige Schritt in die richtige Richtung“ | |
| sein muss. | |
| Es gerät aus dem Blick, dass die Debatte um einen CO2-Preis Mumpitz ist, | |
| weil eigentlich gar keine Treibhausgase mehr entstehen dürfen, wenn das | |
| Klima nicht irreparabel leiden soll. Null CO2 kann aber keinen Preis haben. | |
| Null ist null. | |
| Stattdessen haben Bundesregierung und Grüne einen Plan ausgetüftelt, wie | |
| die CO2-Preise langsam steigen. Im Jahr 2025 soll eine Tonne 55 Euro kosten | |
| – obwohl in diesem Jahr das Kontingent an Treibhausgasen komplett | |
| aufgebraucht sein dürfte, das die Menschheit noch in die Atmosphäre blasen | |
| darf. Die Deutschen erinnern an einen Zuckerkranken, der seinem Arzt Geld | |
| dafür gibt, dass er regelmäßig die Sahnetorten geliefert bekommt, die | |
| seinen sicheren Tod bedeuten. | |
| Dieser Wahnsinn hat durchaus rationale Seiten. Der neue CO2-Preis dürfte | |
| tatsächlich erreichen, dass weniger Treibhausgase entstehen. Doch relative | |
| Erfolge sind keine absolute Lösung. Auch weniger CO2 ist zu viel CO2, doch | |
| diese Tatsache kommt emotional nicht an. | |
| ## Visionen sind noch kein Konzept | |
| Unbeirrt vertraut man auf die normative Kraft des Graduellen. Man will mit | |
| kleinen Maßnahmen anfangen, um sich kontinuierlich zu steigern. Der | |
| Bodensee ist ein gern zitiertes Beispiel: 1970 war er komplett verschmutzt; | |
| jetzt ist er sauber. Warum soll nicht die ganze Welt wie der Bodensee sein? | |
| Dieser Vergleich hinkt doppelt. Es ist ein Trugschluss, Treibhausgase zu | |
| behandeln, als wären sie Abwasser. Wasser kann man reinigen. CO2 bleibt für | |
| immer in der Atmosphäre, und dieser Klimaschaden ist nicht mehr zu | |
| reparieren. Doch dieser Unterschied wird politisch verwischt, auch durch | |
| die CO2-Preise. Plötzlich kosten Klimagase eine Gebühr, wie auch Wasser | |
| seinen Preis hat, der bei durchschnittlich 4 Euro pro Kubikmeter liegt. | |
| Unvergleichliches wird monetär vergleichbar gemacht. | |
| Zudem war der Bodensee ein Einzelproblem. Isolierte Probleme lassen sich | |
| immer lösen – und sei es, dass man sie woandershin verschiebt. Die | |
| Treibhausgase hingegen entstehen überall und sind eine Folge des | |
| Kapitalismus. Also müsste die gesamte Wirtschaft komplett reformiert | |
| werden. Sofort. Dafür gibt es kein Modell – und noch nicht einmal erste | |
| Ansätze. | |
| Es gibt nur Listen, die Visionen aufzählen. Das soll nicht lächerlich | |
| gemacht werden. Inspirierend ist etwa das Buch „Drawdown“: Wissenschaftler | |
| aus allen Kontinenten haben hundert Maßnahmen zusammengetragen, wie sich | |
| Treibhausgase vermeiden oder wieder binden ließen. Die Vorschläge reichen | |
| von Windturbinen bis zu Hochhäusern aus Holz. | |
| Doch Visionen sind noch kein Konzept. Wie immer [3][die Szenarien | |
| aussehen]: SUVs würde es nicht mehr geben, ob mit oder ohne Kindersitz. | |
| Schwere Autos verbrauchen zu viel Energie und Umwelt. | |
| Was wird also aus Baden-Württemberg? Zwar sind in der deutschen | |
| Automobilindustrie „nur“ etwa 1,75 Millionen Menschen direkt oder indirekt | |
| beschäftigt. Doch leider ballen sich diese Betriebe in wenigen Regionen, | |
| die davon leben. | |
| Zudem würde es nicht nur die Autoregionen treffen: In einer CO2-freien Welt | |
| wären auch Banken, Versicherungen, Flughäfen, Reisebüros oder PR-Berater | |
| überflüssig. Umgekehrt müssten sehr viel mehr Menschen auf den Äckern | |
| arbeiten, um ökologische Landwirtschaft zu betreiben. | |
| Dieser Umbau ist nur möglich, wenn der Staat steuert. Noch ist | |
| unvorstellbar, dass die Bundesregierung diskutiert, wie sie Stadtbewohner | |
| zu Ökobauern umschult. Doch erst wenn diese Debatten einsetzen, wurde das | |
| Klimaproblem verstanden. | |
| 20 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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