| # taz.de -- Wahlen in Großbritannien: Der Brexit-Wahlsieg | |
| > Das Scheitern der Labour Party und der Triumph von Boris Johnson zeigen: | |
| > Es gibt massive Umwälzungen in der politischen Landschaft | |
| > Großbritanniens. | |
| Bild: Boris Johnson bescherte seiner Partei den größten Wahlsieg seit 1987 | |
| Die Regenwolken gaben irgendwann den Blick auf den Vollmond am Nachthimmel | |
| frei, Wind und Stürme machten den Briten landesweit zu schaffen. Nicht nur | |
| meteorologisch war der 12. Dezember in Großbritannien ein denkwürdiger Tag. | |
| [1][Boris Johnson hat seine Konservativen bei den Parlamentswahlen zu einem | |
| historischen Wahlsieg geführt.] Aus 317 Sitzen bei den Wahlen 2017 sind 365 | |
| geworden, eine absolute Mehrheit von 80 Sitzen im 650 Abgeordnete zählenden | |
| Unterhaus. Das ist der größte konservative Wahlsieg seit 1987 unter | |
| Margaret Thatcher. | |
| Dreieinhalb Jahre, nachdem die Briten mehrheitlich für den Austritt aus der | |
| EU stimmten, haben sie dem wichtigsten Anführer der damaligen | |
| Brexit-Kampagne eine komfortable Mehrheit beschert und damit das | |
| Referendumsergebnis in der Regierung verankert. Spiegelbildlich hat Labour | |
| die schwerste Wahlniederlage seiner Geschichte erlitten. Die linke | |
| Oppositionskraft fällt auf 203 Sitze zurück, das schlechteste Ergebnis seit | |
| 1935. | |
| Die Konservativen waren zuvor keineswegs siegessicher. Auf dem politischen | |
| Weihnachtsempfang der Wochenzeitschrift Spectator – früherer Chefredakteur: | |
| Boris Johnson – am Vorabend der Wahl, ein Stelldichein des konservativen | |
| Establishments, dominierte Sorge vor einer Niederlage. Kaum jemand unter | |
| den rund 1000 Gästen hob die Hand, als Chefredakteur Fraser Nelson um ein | |
| Meinungsbild bat und nach einer hohen Tory-Mehrheit fragte. Eine | |
| unveröffentlichte Umfrage machte die Runde, wonach Johnsons Partei nur noch | |
| einen Punkt vor Labour liege. | |
| 24 Stunden später war das alles Geschichte. Johnson triumphierte. Die | |
| konservative Strategie, alte Labour-Milieus mit der Parole „Get Brexit | |
| Done“ zu überzeugen, ging voll auf. Die berüchtigte „rote Mauer“ aus | |
| sicheren Labour-Sitzen vom Nordosten Wales quer durch den Norden Englands | |
| bis in die nordostenglische Region Newcastle, wurde erfolgreich gestürmt. | |
| Manche Wahlkreise haben ihren ersten konservativen Abgeordneten seit | |
| hundert Jahren, sogar dort, wo der Hass auf Thatcher zur politischen | |
| Folklore gehört. Im Laufe der Wahlnacht fielen historische Labour-Sitze wie | |
| Dominosteine – sogar Tony Blairs alter Wahlkreis Sedgefield im | |
| Bergbaurevier um Durham. | |
| ## Umwälzung der Wählerlandschaft | |
| Hinter diesen Erschütterungen steht eine gigantische Umwälzung der | |
| Wählerlandschaft. Bei der Spectator-Party in London analysierte das der | |
| bekannte Reporter und Kolumnist Rod Liddle, der nicht an einen | |
| Tory-Wahlsieg glaubte, anhand seines Heimatwahlkreises Stockton South in | |
| Nordostengland: Arbeiterviertel, die immer Labour wählten, schwenken zu den | |
| Tories – das Villenviertel, wo die reichen Fußballprofis wohnen, wird | |
| Labour-Hochburg. Stockton South fiel tatsächlich an die Konservativen. Laut | |
| Financial Times steigt der Schwenk zu den Konservativen mit dem Anteil der | |
| geringqualifizierten Arbeitnehmer. | |
| Die politische Landschaft Großbritanniens passt sich verspätet dem Ergebnis | |
| des [2][Brexit-Referendums von 2016] an, mit damaligen Leave-Hochburgen als | |
| neuen Tory-Eroberungen. Das gilt auch für das Remain-Lager, das den Brexit | |
| ablehnt und sich vor allem bei Liberaldemokraten, Grünen und schottischen | |
| Nationalisten sammelte und zumindest einzelne Labour-Abgeordnete umfasst. | |
| Seine Vertreter haben in wohlhabenden englischen Hochburgen der | |
| Brexit-Gegner von 2016 gut abgeschnitten, dazu in Teilen Schottlands. | |
| Bemerkenswert an dieser Wahl ist, dass die Parteien, deren Haltung zum | |
| Brexit am eindeutigsten ist, am stärksten zulegten – allerdings nur in | |
| Stimmen, nicht in Sitzen: die [3][Brexit Party] mit zwei Prozent aus dem | |
| Stand, die Liberaldemokraten mit über 4 Prozent Zuwachs. Die Konservativen | |
| haben ihren Stimmenanteil nur um etwas über ein Prozent verbessert, aber in | |
| Sitzen massiv zugelegt – weil Labour, das offiziell gar keine eigene | |
| Haltung zum Brexit hatte, um acht Prozent einbrach. Viele Labour-Stimmen | |
| gingen nicht an die Tories, sondern an die Brexit Party, die zwar nirgends | |
| einen Sitz ergatterte, aber Labour genug Wähler nahm, um so manchen | |
| Konservativen zum Sieg zu verhelfen. | |
| Labour-Chef Jeremy Corbyn kündigte noch in der Wahlnacht seinen Rücktritt | |
| an – allerdings noch nicht sofort. Die Partei brauche einen „Prozess der | |
| Reflexion“ und solange werde er sie weiter führen, sagte Corbyn. Der linke | |
| Flügel führt die Wahlniederlage allein auf den Brexit zurück, den man als | |
| Hauptthema nicht habe verdrängen können. Corbyn sagte am Freitag, sein | |
| Wahlprogramm habe großen Zuspruch erhalten, aber der Brexit habe alles | |
| verdrängt. Schattenjustizminister Richard Burgon meinte, nächstes Mal werde | |
| alles besser: „Dies war eine Brexit-Wahl. Die nächste Wahl wird keine | |
| Brexit-Wahl mehr“. | |
| ## Was nun, Labour? | |
| Zahlreiche geschlagene Labour-Abgeordnete erklärten diese Analyse | |
| allerdings öffentlich für Blödsinn: massive Vorbehalte gegen Jeremy Corbyn | |
| hätten die Partei unwählbar gemacht. Labour habe wegen einer „toxischen | |
| Mischung von Brexit und Corbyn“ verloren, sagte der gescheiterte | |
| Parlamentarier Gareth Snell und geißelte zugleich Pro-EU-Kräfte bei Labour: | |
| „Manche Zentristen fanden es wichtiger, den Brexit zu stoppen als die | |
| Tories.“ | |
| Die besiegte Labour-Abgeordnete Ruth Smeeth komentierte das Wahlergebnis | |
| so: „Das ist das Ende. Die Frage muss gestellt werden, ob Labour überhaupt | |
| noch ein Existenzrecht hat“. Hinter den Kulissen soll darüber gestritten | |
| werden, ob Labour nicht schon für die Eröffnung des neugewählten Parlaments | |
| kommende Woche ein frisches Gesicht braucht. | |
| Als Hauptopposition zu Boris Johnson positioniert sich nun die schottische | |
| Nationalpartei SNP. So wie die Konservativen jetzt England politisch | |
| dominieren, tut die SNP das in Schottland. In England holten die | |
| Konservativen 47,2 Prozent und 344 der 533 Wahlkreise. In Schottland holte | |
| die SNP 45 Prozent und 48 der 59 Wahlkreise. | |
| Schottlands SNP-Regionalpremierministerin Nicola Sturgeon warf | |
| Premierminister Boris Johnson am Freitag offen den Fehdehandschuh hin und | |
| verlangte das Recht, auch ohne die derzeit rechtlich nötige Zustimmung | |
| Londons ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Schottland einzuleiten: | |
| „Nicht Westminster, sondern dem schottischen Parlament obliegt die | |
| Entscheidung, ob und wann es ein Referendum gibt“, erklärte sie in | |
| Edinburgh. Boris Johnson habe ein Mandat für den Brexit in England, „aber | |
| er hat nicht das geringste Mandat, Schottland aus der EU zu führen.“ | |
| Die Liberaldemokratin Jo Swinson, die ihren schottischen Wahlkreis an die | |
| SNP verlor, sagte, nun würden manche „die Welle des Nationalismus auf | |
| beiden Seiten der (englisch-schottischen) Grenze feiern“, und das | |
| Gesamtergebnis bedeute „Furcht und Niedergeschlagenheit für Millionen“. | |
| ## Eine Art englische CSU | |
| Aber mit Brexit-Phantomschmerzen wird nicht lange Politik zu machen sein. | |
| Denn Boris Johnson steht an der Krönung seiner wechselhaften politischen | |
| Karriere, und er gedenkt, seinem Land und seiner Partei seinen Stempel | |
| aufzudrücken. „Die Leute wollen Veränderung. Wir können und dürfen sie | |
| nicht enttäuschen. Um Veränderung zu erreichen, müssen auch wir uns | |
| verändern“, rief er am Freitag morgen seiner Partei ins Gewissen. | |
| In einer Ansprache am Nachmittag wiederholte er die Parole vom | |
| „One-Nation-Konservatismus“ – also kein Klassenkampf von oben, wie es | |
| Labour ihm unterstellt, sondern ein sozialer Konservatismus für alle. | |
| Die britischen Konservativen als eine Art englische CSU – so in etwa sieht | |
| Johnsons Weg aus, nachdem er Großbritannien Ende Januar 2020 aus der EU | |
| geführt hat. „Zwanzig Jahre Tory-Herrschaft“ prophezeite ein | |
| niedergeschlagener Labour-Politiker in der Wahlnacht. Kein Konservativer | |
| würde ihm derzeit widersprechen. | |
| 13 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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