# taz.de -- Wirtschaftsforscherin zum EU-Austritt: „Harter Brexit sehr wahrsc… | |
> Die Finanzexpertin Dorothea Schäfer erklärt, warum der Brexit nicht im | |
> britischen Interesse ist, warum er trotzdem kommt und warum erst mal | |
> alles beim Alten bleibt. | |
Bild: Fußgänger in der City of London: Gehen 30 Prozent der Jobs im britische… | |
taz am wochenende: Frau Schäfer, die Briten werden die EU zum 31. Januar | |
verlassen. Was passiert danach? | |
Dorothea Schäfer: Erst mal nichts. Es läuft eine Übergangsfrist bis Ende | |
2020, wo alles bleibt wie bisher. Die Briten müssen sich an die Regeln der | |
EU halten und weiter zahlen, haben aber kein Mitspracherecht mehr. In | |
dieser Zeit soll der neue Handelsvertrag zwischen der EU und Großbritannien | |
entstehen. | |
Der britische Premier Boris Johnson hat angekündigt, dass er gesetzlich | |
ausschließen will, dass diese Übergangsfrist verlängert wird. Scheiden die | |
Briten also Ende 2020 definitiv aus? | |
Das glaube ich nicht. Ich rechne damit, dass Johnson die Übergangsfrist | |
mindestens einmal verlängern wird. Die EU hat auch schon erklärt, dass sie | |
dazu bereit wäre. Denn wir wissen aus Verhandlungen mit anderen Ländern, | |
zum Beispiel mit Kanada, dass es zehn Jahre dauern kann, bis ein | |
Handelsvertrag steht. | |
Kommt es also zu einem Brexit ohne Brexit, weil Großbritannien faktisch | |
noch jahrelang in der EU bleibt? | |
Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Das zentrale Motto in England war | |
ja von Anfang an „[1][Take back control“]. Viele Engländer wollen sich | |
nicht mehr den Regeln der EU unterordnen. | |
Womit rechnen Sie also? | |
Ein harter Brexit ist sehr wahrscheinlich. Also ein Ausstieg aus der EU | |
ohne Handelsvertrag. Denn jedes Abkommen würde aus britischer Sicht | |
bedeuten, dass man Kompromisse eingehen muss, die man nicht akzeptieren | |
will. Es war kein Zufall, dass Johnson nach seiner Wahl als Erstes in den | |
Norden Englands gereist ist: Er wollte signalisieren, dass die Bedürfnisse | |
von London nicht mehr so wichtig sind – dass man sich von der | |
Globalisierung abwendet. | |
Aber wäre ein harter Brexit nicht ein schwerer Schlag für die britische | |
Wirtschaft? | |
Das Problem ist: Solange die Briten faktisch in der EU sind, wird ihre | |
Wirtschaft nicht einbrechen. Die Risiken, die ein harter Brexit bedeuten | |
würde, sind also gar nicht fühlbar. Das befördert die Abenteuerlust. | |
Außerdem muss irgendwann eine Entscheidung fallen. Es wäre keine Lösung, | |
die Übergangsfrist immer wieder zu verlängern, denn sie ist die | |
schlechteste aller Welten: Die Briten müssen die vollen Beiträge zahlen, | |
sind aber nur mehr halb in der EU. Sie können nicht mitbestimmen, müssen | |
sich aber an alle Regeln halten. | |
Wäre es nicht denkbar, dass Johnson einen vernünftigen Handelsvertrag mit | |
der EU erarbeitet und das seinen Landsleuten auch so verkaufen kann? Nach | |
dem Motto: Ihr alle wisst, dass ich leidenschaftlich für den Brexit war – | |
aber dieser Vertrag ist leider das Beste, was sich herausholen ließ? | |
Ich kann mir zwar vorstellen, dass Boris Johnson sehr flexibel ist. | |
Trotzdem glaube ich nicht, dass dies eine Option ist. Denn er hat in seinem | |
Wahlkampf große Hoffnungen geweckt, dass sich Großbritannien durchsetzt. | |
Damit ist aber ein Vertrag nur möglich, wenn die EU den Briten deutliche | |
Zugeständnisse macht. Dazu sehen die restlichen 27 EU-Staaten aber gar | |
keinen Anlass; für sie funktionieren die derzeitigen Regeln. Zudem kann | |
jedes EU-Land sein Veto einlegen. Schon jetzt ist zu erkennen, dass die | |
Franzosen kein Interesse haben, den Briten besonders weit entgegenzukommen. | |
Denn die Bedeutung der Franzosen nimmt automatisch zu, wenn die Briten | |
ausscheiden. | |
Das klingt, als wäre die EU zu bequem oder zu egoistisch, um ordentlich mit | |
den Briten zu verhandeln. Waren die EU-Kommission und Chefunterhändler | |
Michel Barnier in den bisherigen Verhandlungen zu arrogant? | |
Nein. Die Hauptaufgabe der EU ist es, den eigenen Club zusammenzuhalten. | |
Allen Mitgliedern muss klar sein, dass man die Privilegien des | |
Binnenmarkts verliert, wenn man aus ihm ausscheidet. Niemand will gern | |
Beiträge zahlen, also muss es sich lohnen. Es wäre das Ende der EU, wenn | |
Trittbrettfahrer profitieren würden. Umgekehrt haben auch die Briten | |
bisher kein starkes Interesse daran gezeigt, ernsthaft mit der EU zu | |
verhandeln. Die Briten hoffen eher darauf, ein sehr günstiges | |
Handelsabkommen mit den USA abschließen zu können. | |
US-Präsident Donald Trump hat den Briten tatsächlich mehrfach einen „Super | |
Deal“ versprochen. Wird er sich daran halten? | |
Das weiß niemand. Aber selbst ein guter Handelsvertrag mit den USA würde | |
nicht wirklich weiterhelfen, denn die Briten haben fast keine Industrie. | |
Ihre Handelsbilanz ist seit Langem negativ: Sie importieren weit mehr, als | |
sie exportieren. Dieses Handelsdefizit haben sie bisher teilweise | |
kompensieren können, indem sie Finanzdienstleistungen in der EU angeboten | |
haben. Die USA hingegen benötigen die City of London nicht: | |
Investmentbanken gibt es an der New Yorker Wall Street genug. | |
Bisher haben die Wall Street und die City of London doch auch eng | |
zusammengearbeitet. | |
Solange die Briten im europäischen Binnenmarkt waren. Für US-Banken war es | |
attraktiv, eine Tochter in London zu gründen – weil sie damit automatisch | |
Zugang zur ganzen EU hatten. Künftig müssen die amerikanischen Banken | |
Tochterfirmen auf dem Festland betreiben, wenn sie Geschäfte in der EU | |
machen wollen. | |
Könnten die britischen und amerikanischen Banken nicht einfach | |
Briefkastenfirmen in Frankfurt oder Paris gründen, aber das eigentliche | |
Finanzgeschäft weiterhin in London abwickeln? | |
Nein. Die EU wird vorschreiben, dass die britischen und amerikanischen | |
Tochterfirmen ein eigenes Risikomanagement und auch eine eigene | |
Kapitalausstattung besitzen. Es werden echte Banken sein, keine | |
Briefkastenfirmen. | |
Viele Briten glauben, dass die Europäische Union beim Thema Banken auf stur | |
schaltet, um sich zu rächen. | |
Mit Rache hat das nichts zu tun. Die Briten haben stets betont, dass sie | |
bei der Bankenregulierung „autonom“ sein wollen. Die EU kann aber keine | |
Banken zulassen, die andere Vorschriften haben und die sie nicht | |
kontrollieren darf. Das ist eine der Lehren aus der Finanzkrise. | |
Wo werden sich die Banken ansiedeln, die London verlassen? | |
Die deutsche Bankenaufsicht Bafin hat mitgeteilt, dass sie mit zwanzig | |
Instituten im Gespräch ist, die nach Frankfurt wechseln wollen. Es gibt | |
Schätzungen, dass dort 3.500 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen werden. | |
Außerdem ziehen viele Banken nach Dublin oder Paris um. | |
Wie viele Arbeitsplätze werden in London verloren gehen? | |
Das ist extrem schwer zu prognostizieren. Aber meiner Schätzung nach wird | |
der britische Finanzsektor um etwa 30 Prozent schrumpfen. | |
Der Brexit ist für die britischen Banken katastrophal, trotzdem hat die | |
Finanzindustrie Boris Johnson im Wahlkampf unterstützt. Warum? | |
Die Haltung der Banken war: Jede Brexit-Lösung ist besser als gar keine | |
Lösung. Außerdem war Labour-Chef Corbyn nicht gerade der Traumprinz der | |
britischen Finanzindustrie. | |
Ist die heimliche Hoffnung der Londoner Banken, dass sich Großbritannien in | |
eine aggressive Steueroase verwandelt und man damit neues Kapital aus dem | |
Ausland anlockt? | |
Dies ist eine der Hauptsorgen der EU. Ich will auch nicht ausschließen, | |
dass es bei Steuern und Regulierungen einen Wettlauf nach unten geben | |
könnte. Aber ich glaube nicht daran. Großbritannien kann seine Steuern gar | |
nicht deutlich senken, weil es die Einnahmen benötigt. Das Modell | |
Steueroase funktioniert eigentlich nur für kleine Staaten wie Malta, | |
Luxemburg oder Irland. | |
Ihre Analyse läuft darauf hinaus, dass es im Interesse der Briten wäre, in | |
der EU zu bleiben. Ist es denkbar, dass die Briten demnächst wieder | |
beitreten? | |
Das ist absolut unwahrscheinlich. Meine Prognose ist: Man wird die | |
Übergangsfrist noch einmal verlängern, also bis Ende 2021. Danach kommt es | |
zum harten Brexit. | |
20 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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