# taz.de -- Der Brexit, von Berlin aus betrachtet: Großbritannien implodiert | |
> Von der EU aus die Heimat zu beobachten ist nicht leicht. Dort wird's | |
> immer kleinherziger. Vom Brexit profitieren werden nur wenige. | |
Bild: Der Horror ist groß, die popkulturellen Referenzen sind es auch | |
Wenn ich, von meiner Wahlheimat Deutschland aus, beobachte, was sich in | |
Sachen Brexit in Großbritannien gerade abspielt, muss ich an eine Szene aus | |
dem „Star Trek“-Film von J. J. Abrams denken: Mr Spock blickt in den | |
Himmel, hoch oben kann er seinen Heimatplaneten Vulkan sehen – und muss | |
zusehen, wie er implodiert. Genauso fühle ich mich: Ich blicke von außen | |
auf das Land, in dem ich geboren wurde – außerstande, die Zerstörung des | |
Ortes zu verhindern, den ich einmal kannte. | |
Ist das Wort Zerstörung drastisch? Ja. Aber seit Großbritannien für den | |
Austritt aus der EU stimmte, hat sich das Land in meinen Augen | |
unwiderruflich zum Schlechteren verändert. Ich hatte erwartet, dass die | |
Briten für den Brexit stimmen, und ich habe geduldig all denen zugehört, | |
die sagten, sie wollten lediglich, dass das Land wieder Kontrolle über | |
seine eigenen Gesetze bekommt. Dann aber begannen die letzten sechs Wochen | |
der Leave-Kampagne – die damals in den Umfragen leicht hinter der für den | |
Verbleib in der EU lag. Und da entfesselten die Brexiteers eine Welle | |
fremdenfeindlicher Propaganda – besonders berüchtig ist das „Breaking | |
Point“-Poster mit Nigel Farage –, die ihren knappen Sieg mit ermöglichte. | |
Sicher, ich könnte jetzt sagen: Ich habe verloren, was soll’s? Aber ich | |
kann und werde mich nicht damit abfinden. Was mich belastet, ist gar nicht | |
so sehr, dass die Leave-Kampagne das Referendum gewonnen hat, als vielmehr | |
die Art, wie sie gewonnen hat. Denn es war wohl vor allem ihre ablehnende | |
Haltung zur Immigration aus Nicht-EU-Staaten ausschlaggebend – also | |
gegenüber Menschen wie meinen Eltern, die aus Uganda geflohen sind. | |
Politiker machten damit Stimmung, dass Leute, die aussehen wie ich, das | |
Land „überschwemmen“. Wie soll ich das nicht persönlich nehmen? | |
Noch schlimmer machte alles für mich die Wahl [1][Boris Johnsons zum | |
Premierminister] – eines Mannes, der auf eine lange Liste | |
fremdenfeindlicher Kommentare verweisen kann. [2][An seiner Seite] steht | |
Jacob Rees-Mogg, ein Mann, der mit Positionen der AfD sympathisiert hat und | |
der andeutete, dass die Opfer einer verheerenden Tragödie in London | |
starben, weil sie nicht genug Verstand gehabt hätten, sich zu retten. Unter | |
solchen Vorzeichen kann ich mich nur schwer für den Weg erwärmen, den die | |
Konservative Partei für mein Land gerade vorgibt. | |
Ich habe dafür gestimmt, dass Großbritannien in der EU bleibt – weil wir in | |
Zeiten, in denen der Rechtsextremismus wieder neu aufflammt, die | |
Institutionen unterstützen müssen, die die Rechtsstaatlichkeit und die | |
Rechte unserer verletzlichsten Bürger schützen. Und ich glaube, dass die | |
EU, trotz all ihrer Makel, solch eine Institution ist. | |
Freunde haben mir immer wieder gesagt, der Brexit werde nie kommen – worauf | |
ich stets geantwortet habe: Doch, wird er. Unterschätzt nicht die Sturheit | |
der Briten. Beim Brexit geht es nicht in erster Linie um ökonomische | |
Vorteile – es gibt nur ein paar wenige, die das nötige Geld haben, [3][um | |
von einem deregulierten Großbritannien zu profitieren]. Beim Brexit geht es | |
vor allem darum, frei zu sein vom vermeintlichen Joch Brüssels. Das ist das | |
Ziel, und einige Briten wünschen es sich so sehnlich, dass ich mich | |
wundere, wie wir so lange als EU-Mitglied überleben konnten. | |
Heute habe ich mehr Angst um Großbritannien denn je. Ich habe Freunde und | |
Verwandte, die für den Austritt gestimmt haben, und die sagen, das Ganze | |
läuft schon jetzt nicht so, wie sie es sich erhofft hatten. Sie berichten | |
von polnischen Freunden, die ihre Jobs gekündigt haben und zurück nach | |
Polen gezogen sind – die Unsicherheit über ihre Arbeitsplätze und die | |
Tatsache, dass sie sich nicht mehr willkommen fühlten im Land, haben sie | |
zermürbt. Wenn sie mir solche Sachen erzählen, denke ich: Aber das ist doch | |
genau das, was ihr gewählt habt. | |
Ich habe Angst um Großbritannien, weil der Wahlkampf, den wir soeben bei | |
den Konservativen beobachten konnten, der unehrlichste war, an den ich mich | |
erinnern kann – und der doch überwältigenden Erfolg hatte. Wir haben jetzt | |
eine Öffentlichkeit, deren Mehrheit entweder nicht weiß, dass man sie | |
anlügt, oder der das nichts ausmacht. | |
Es gab viele Briten, die Donald Trump ausgelacht haben, als der dem | |
demokratischen System der USA den Krieg erklärte. So jemanden würden wir | |
niemals wählen, sagten sie. Tja nun, wir haben so jemanden gewählt und ihm | |
sogar mehr Rückhalt gegeben als die Amerikaner Donald Trump. | |
## Es geht um etwas Größeres | |
Schockiert hat mich das Wahlergebnis nicht. Vor zehn Jahren schon habe ich | |
zu einem Freund gesagt: Boris Johnson wird irgendwann Premierminister. Und | |
es ist kein Zufall, dass dieser Freund und ich Großbritannien vor langer | |
Zeit verlassen haben. Schon damals sah ich in Johnson den Maulhelden – | |
dieses Selbstvertrauen, das eine maßgebliche Anzahl konservativer Wähler | |
anspricht. Er benimmt sich, als wäre er zum Herrschen geboren, und hat | |
jetzt sein erklärtes Ziel erreicht. | |
Ich hoffe, ich irre mich, aber ich fürchte, die Probleme für Großbritannien | |
fangen gerade erst an. Um die Handelsdefizite auszugleichen, werden wohl | |
[4][die Waffendeals mit repressiven Regimen] in die Höhe schnellen. | |
Ebendiese repressiven Regime werden zugleich die Möglichkeit haben, | |
Großbritannien in ein Steuerparadies zu verwandeln. Und darüber hinaus | |
werden wir – achtet man auf die Wortwahl der Konservativen gegenüber | |
marginalisierten Gruppen – eine deutlich kleinherzigere, schäbigere | |
Gesellschaft werden. Eine, in der Geld die höchste soziale Währung ist. | |
Viele fragen, wie der Brexit meine Lebensqualität in der EU beeinflussen | |
wird. Ich kann nur antworten: Das ist mir egal. Es geht hier um etwas | |
Größeres. Es geht darum, welche Art Land Großbritannien sein will. Und im | |
Moment ist der Ausblick auf seine Zukunft – wie für Mr Spock – ziemlich | |
entsetzlich. | |
2 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Musa Okwonga | |
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