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# taz.de -- Wie Chinas KP Geschichte inszeniert: Helden für heute
> Die Studentin Xie Shixue wandelt auf den Spuren Mao Zedongs – zu Fuß und
> per App. Sein „langer Marsch“ gilt als Mythos der Volksrepublik.
Bild: Keine Soldaten sonder Studenten: Zeremonie am Märtyrer-Denkmal am Lousha…
Jiangxim/Gizouh/Shaanxi taz | Es ist ein feuchtkühler Wintermorgen am
Loushanguan-Park. Ein steinerner Obelisk mit goldenem Hammer und Sichel
ragt an dem bewaldeten Berghang hervor, der von dicken Nebelschwaden
umhüllt wird. Im Februar 1935 bezwangen Mao Zedong und seine Truppen beim
Langen Marsch diesen unwirtlichen Gebirgspass in der südchinesischen
Provinz Guizhou.
Knapp 85 Jahre später marschieren trotz des Nieselregens rund 60 Studenten
der Universität Südwestchinas, allesamt in himmelblauer Militäruniform
gekleidet, mit demonstrativem Elan die Stufen zum historischen Gedenkort
hinauf. Wo einst Mao seine Macht innerhalb der Kommunistischen Partei
gefestigt hatte, entdeckt nun die Jugend Chinas den zentralen Heldenmythos
des Landes erneut für sich.
„Wir sind alle Mitglieder der Kommunistischen Partei“, sagt die
Psychologiestudentin Xie Shixue, die ohne zu überlegen Mao als ihr
politisches Vorbild nennt. „Früher konnten wir den Langen Marsch nur im
Klassenzimmer studieren. Seit 2013 gehen wir mit unseren Kommilitonen jeden
Monat auf Exkursionen und laden Referenten zu Vorträgen ein“, sagt die
25-Jährige.
Dann zückt sie ihr Smartphone: „Auch haben wir eigene Apps, mit denen wir
lernen, das Wissen über den Langen Marsch in unserem Alltag anzuwenden“,
sagt sie, während ihre Kameraden gerade für ein Gruppenfoto die Flagge der
Volksrepublik China ausbreiten.
## Das Heldenmythos wird wieder aufgewärmt
Der Lange Marsch gilt als der zentrale Heldenmythos der Volksrepublik
Chinas. Seit Amtsantritt des Präsidenten Xi Jinping im Jahr 2013 wird jenes
Geschichtskapitel wieder hervorgekehrt: Das Fernsehprogramm ist voll von
historischen Seifenopern aus jener Zeit, viele Restaurants sind im Stile
der Roten Armee dekoriert. Auch in seinen Reden bedient sich Präsident Xi
wiederholt dieser historischen Metapher: Im Mai dieses Jahres rief er etwa
die Bevölkerung dazu auf, sich auf einen „neuen langen Marsch“
vorzubereiten – angesichts des eskalierenden Handelskonflikts mit der
US-Regierung. Auf die heutige Zeit umgemünzt bedeute er für die
Volksrepublik, sich wirtschaftlich von der Technologie der USA unabhängig
zu machen. Wann immer es darum geht, an den Patriotismus zu appellieren
oder sich für eine entbehrungsreiche Periode zu wappnen, muss der Lange
Marsch herhalten.
Als militärischer Rückzug lässt sich jene Periode aus dem Jahr 1934
beschreiben, bei der die Rote Armee 12.500 Kilometer durch die
unzugänglichen Provinzen im Hinterland gezogen ist – stets auf der Flucht
vor der von Chang Kai-shek geführten Kuomintang.
Für Peking ist der Lange Marsch eine absolute Siegesgeschichte,
vergleichbar mit David gegen Goliath: die 87.000 Soldaten der Roten Armee –
primitiv ausgebildet, doch dem Geiste der Revolution in sich tragend –
konnten sich der 400.000 starken Kuomintang widersetzen. Dass diese zu
jener Zeit ihre besten Truppen in den Kampf gegen die japanischen
Streitkräfte schickten, wird in der Geschichtsschreibung Chinas unter den
Teppich gekehrt.
Um sich der internationalen Presse zu erklären, hat das staatliche
Informationsamt in Peking zu einer Pressereise auf den Spuren des Langen
Marschs geladen. Wer mit der Regierung durch die Provinzen tourt, nimmt an
einem strikt durchorganisierten Kulturprogramm teil: Fünf Flüge durch drei
Zeitzonen, ein gutes Dutzend Museen und Gedenkhallen, stets in Begleitung
örtlicher Journalisten, Parteikader und Forscher. Die dicht getaktete
Terminhetzerei hat natürlich auch Kalkül: Zu sehen bekommen die
Korrespondenten nur, was in die chinesischen Agenda passt.
„Der Grund unserer Reise ist es, mehr über die Kommunistische Partei und
die Geschichte Chinas zu erfahren. Jede Frage, die Sie haben, können Sie
uns stellen“, sagt Xi Yanchun, Vize-Leiterin der Pressestelle des
Informationsamts, während der Reisebus unter der prallen Sonne der
südchinesischen Jiangxi-Provinz zum ersten Termin brettert. „Hier hat der
Lange Marsch seinen Anfang genommen, viele hochrangige Regierungsbeamte
warten bereits auf die Ankunft unserer Medien-Freunde“, sagt Frau Xi mit
euphorischem Lächeln.
Im Huangsha-Dorf begrüßt der lokale Parteisekretär, ein jovialer Mann in
brauner Lederjacke, die Medien-Delegation. Er erzählt von den 43 Familien
im Dorf, die damals in ärmlichen Hütten hausten. Insgesamt 70 Männer unter
ihnen schlossen sich dem Langen Marsch der roten Armee an. Zurückgekehrt
ist keiner von ihnen. Für das Märtyrertum jedes Verstorbenen wurde eine
Kiefer gepflanzt, mittlerweile ragen die 70 Bäume am umliegenden Berghang
in den Himmel.
Das Leben der Dorfbewohner hat sich dank der Regierung grundlegend
verbessert, erzählt der Parteikader: „Noch vor wenigen Jahren haben die
meisten Einwohner noch in einfachen Hütten gewohnt – ohne fließend Wasser,
ordentliche Betten, geschweige denn Klimaanlage.“ Längst sind die
Dorfbewohner aus Huangsha in moderne vierstöckige Apartmenthäuser
umgezogen. Die historischen Hütten stehen nur noch für die Touristen, um
jene entbehrungsreiche Zeit in Erinnerung zu halten.
Zu Recht preist die Regierung mit großen Stolz den wirtschaftlichen
Aufstieg der Volksrepublik Chinas an, die jedes Jahr Millionen aus der
Armut hievt. Wenn es jedoch um die historische Geschichte der
Kommunistischen Partei geht, dann nimmt die Parteipropaganda zuweilen
überhand: In einem Gedenkmuseum erzählt eine Reiseleiterin die Geschichte
eines Soldaten der Roten Armee, der eine weinende Gemüseverkäuferin am
Straßenrand erblickt. Die Schmach der Frau besteht aus einer Handvoll
gefälschter Münzen, die ihr unwissentlich untergejubelt wurden. Der Soldat
fasst sich ans Herz und tauscht ihr Falschgeld gegen seine eigenen Scheine
ein. Später werden ihm jene Münzen, gelagert in seiner linken Brusttasche,
mehrfach von den Maschinengewehrsalven der Kuomintang retten. Hinter einer
Glasvitrine ist nun jene zerschossene Soldatenuniform zu besichtigen – und
soll für bare Münze genommen werden.
In Schanghai oder Peking würden solche Pathos-triefenden Geschichten wohl
vornehmlich höhnendes Gelächter hervorrufen. Letztendlich offenbart sich
bei der Reise durch das ländliche China eine riesige Kluft – zwischen Jung
und Alt, den wohlhabenden Metropolen der Ostküste und dem unterentwickelten
Hinterland. Wer sich bei der urbanen Jugend nach dem Langen Marsch
erkundet, erntet oftmals ahnungsloses Achselzucken, nicht selten gar
höhnisches Gespött. Für die konsumorientierten Millennials aus Peking und
Schanghai sind die Ideologie-Kurse an den Universitäten ein notwendiges
Übel und die geschwurbelten Reden über die Parteigeschichte entstammen
einer weit entfernten Vergangenheit. Ihre Lebensrealität ähnelt vielmehr
denen anderer Großstädter internationaler Metropolen: Sie sorgen sich um
die steigenden Mieten, den Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt und die
Verwirklichung individueller Lebensentwürfe. Aufgewachsen in materieller
Sicherheit, ist ihnen die entbehrungsreiche Zeit der Elterngeneration
fremd.
Für den Großteil der Bevölkerung jedoch speist sich die eigene Identität
aus den heroischen Geschichten der ersten Parteigeneration: Sie war es, die
den Grundstein im Befreiungskampf gegen die korrupte Kuomintang geführt
hat. Sie war es, die das Land befreit, die Großgrundbesitzer enteignet und
das moderne China gegründet hat. Viele sind der Kommunistischen Partei
dankbar, innerhalb weniger Jahrzehnte der bitteren Armut entflohen zu sein.
Zwei Flugstunden westlich in der Provinz Guizhou: Vor einer
Freilichttribüne führen die Dorfbewohner Loushanguans mit viel Pyrotechnik
und orchestraler Musikuntermalung den historischen Kampf zwischen den
„barbarischen“ Kuomintang und der revolutionären Roten Armee auf. Die
meisten Zuschauer blicken jedoch mehr auf ihr Smartphone-Display als auf
das dargebotene Schauspiel. „Roter Tourismus“ nennt sich das staatlich
initiierte Programm, mit dem die Regierung einerseits die ideologische
Bildung seiner Bevölkerung auf Vordermann bringen und gleichzeitig
abgelegene Landstriche entwickeln will.
Unter Präsident Xi erfährt der Rote Tourismus eine Aufwertung: Die Jugend
des Landes soll die Parteigeschichte für sich entdecken.
Der 56-jährige Kunsthandwerker Ma Yi, ein kleingewachsener Mann mit
Camouflage-Kappe auf der Stirn, zählt zu den Nutznießern jener Entwicklung.
Nur einen Steinwurf von der Freiluftshow entfernt, führt er einen Betrieb
für gewebte Stühle und Möbel. Dass Herr Ma mittlerweile erfolgreicher
Unternehmer mit einem Jahresumsatz von umgerechnet rund 500.000 Euro ist,
zählt zu den Erfolgsgeschichten des modernen Chinas.
## Der Unternehmer mit Mao im Blick
Der Sohn einer Bauernfamilie zog als junger Mann in die Industriestadt
Guangzhou, um in Fabriken als Arbeitsmigrant seinen Lebensunterhalt zu
bestreiten. Aufgrund der massiven Infrastruktur-Investitionen in seinem
Heimatdorf kamen jedoch immer mehr kaufkräftige Touristen. Ma Yi sah damals
seine Chance gekommen: Mit seinem Ersparten zog er zu seiner Familie zurück
und wechselte ins Unternehmertum. Seit 2017 verkauft er seine Möbel zudem
über Taobao, der E-Commerce-Plattform des Internetriesen Alibaba, in alle
Teile Chinas. Bezahlt wird ausschließlich digital – per Smartphone-App.
„Vor zehn Jahren bin ich wie viele andere Arbeitsmigranten in meine Heimat
zurückgekehrt. Mittlerweile sind die meisten meiner Bekannten von früher
Chefs von kleineren Unternehmen“, sagt er. Sein einst abgeschiedenes
Heimatdorf weist mittlerweile alle Bequemlichkeiten des modernen Lebens
auf: stabile Stromversorgung, gute Straßenanbindungen und schnelles
Internet.
Mit dem Flugzeug geht es weiter nach Yan’an in die Provinz Shaanxi:
trockene Berghänge in ausgewaschenen Ockertönen dominieren die Landschaft,
beißender Wind peitscht durch die Felder. An einer verlassenen Landstraße
muss man schon genau Ausschau halten, um das unscheinbare Steinmonument zu
sehen, an der Mao Zedong einst seine „Schneefeld-Rede“ gehalten hat. Hier,
am Ende einer 12.500 Kilometer langen Odyssee, hat der Revolutionär den
Langen Marsch für beendet erklärt. Nur rund 5.000 Anhänger der Roten Armee
haben ihn überlebt. Doch in der Abgeschiedenheit der Shaanxi-Provinz
formierten sich die Kommunisten neu – um schließlich das chinesische Volk
nach Jahrzehnten der Bürgerkriegs hinter sich zu vereinen.
Jia Shi, ein 83-jähriger Bauer mit tiefen Furchen im Gesicht, lebt seit
mehreren Generationen in jener Ödnis. Sein Großvater, so erzählt er bei
warmen Wasser in seinem unverputzten Haus, habe Maos Rede noch persönlich
erlebt. Der Aufstieg Chinas ist an ihm vorbeigezogen, die Hauptstadt Peking
hat er nie betreten. Und doch blickt Jia Shi mit Stolz auf sein Leben
zurück; seine sieben Kinder und fünf Enkelkinder. Was für ihn der lange
Marsch bedeute? Die entbehrungsreiche Zeit während seiner Jugend, der
ständige Hunger und die Kälte. „Mein Leiden gehört jedoch längst der
Vergangenheit an. Der Zukunft, die mir noch bleibt, blicke ich mit Freude
entgegen.“
18 Dec 2019
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
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