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# taz.de -- Künstler*innen in Bagdad und Erbil: Traum vom besseren Irak
> Künstler erhalten die Proteste auf dem Tahrir-Platz in Bagdad am Leben.
> In ihren Werken verarbeiten sie die Zerrüttungen ihrer Gesellschaft.
Bild: Wollte sich für die Erfahrungen unter dem IS rächen – mit einem Fried…
Dass Amin Muqdad an diesem sonnigen Herbsttag im Garten steht, die Violine
am Kinn, grenzt an ein Wunder. Vor ihm 16 Musiker*innen, er nickt ihnen zu,
sie heben ihre Geigen. Und schon schicken sie die ersten Takte von
Beethovens „Ode an die Freude“ in den wolkenlosen blauen irakischen Himmel
über Erbil.
Amin Muqdad und sein Orchester kommen aus Mossul, aus jener Stadt im Norden
des Iraks, [1][die nach 2014 zweieinhalb Jahre lang unter der
Schreckensherrschaft des „Islamischen Staats“ stand]. „Die Musik hat mich
vor dem IS und seinem Terror gerettet“, sagt Muqdad heute. Dabei hätte die
Geige, seine große Liebe, ihn damals fast in den Kerker gebracht.
Unter der Herrschaft des IS war Musik verboten. Amin Muqdad musizierte
trotzdem weiter in seinem Zimmer in Mossul, der umkämpften Metropole und
zweitgrößten Stadt des Iraks. Er gab sogar zwei Studenten per Video
Geigenunterricht. Doch irgendwann nach 2014 standen plötzlich IS-Kämpfer in
seiner Wohnung, nahmen ihm die Musikinstrumente ab und drohten ihm.
Muqdad tauchte sechs Monate lang bei einem Verwandten unter. Mitte 2017
wurde der IS militärisch besiegt und Mossul war wieder frei. Aber die
Wunden aus dieser Zeit sind auch heute noch nicht verheilt. Auf der Suche
nach neuer Hoffnung gründete Amin Muqdad das „Mosul Light Orchestra“.
## Rache durch Frieden
Er sagt, das habe sich angefühlt wie ein Sieg des Lebens über den Tod. „Ich
wollte mich für all die Erfahrungen unter dem IS rächen, und zwar am besten
mit einem Friedensprojekt.“ Auch wenn es vielleicht zynisch klingen mag:
Selten entfalten Kunst und Kultur eine so starke Kraft wie in Zeiten von
Kriegen und Krisen. Und von diesen hatte der Irak reichlich.
Eine Videoaufzeichnung zeigt, wie Amin Muqdad Anfang Dezember auf der
Raschid-Straße im Zentrum Bagdads steht. Hinter ihm prangt ein Graffito,
auf dem in pinkfarbenen arabischen Lettern „Leben“ steht. Ein Freund filmt
und streamt das Konzert auf Facebook. Künstlerinnen und Künstler spielen
bei den [2][seit über zwei Monaten anhaltenden Protesten in Bagdad] und
anderen Städten des Zentral- und Südiraks eine wichtige Rolle.
Ihre Musik, ihre Graffiti, ihre Gesänge würden für ein
[3][Gemeinschaftsgefühl] unter den Protestierenden sorgen, so Muqdad, ihnen
Kraft geben oder die Gedanken in eine angenehmere Richtung lenken.
Wenigstens kurz. Angesichts der brutalen Überfälle von Straßengangs, die
von der Regierung mindestens geduldet würden, sei das nicht zu
unterschätzen.
## Eine Protestrepublik mit eigenen Ministerien
In den Abendstunden vom 6. auf den 7. Dezember erschossen Angreifer aus
vier Autos heraus 16 Protestierende. „Das war eine entsetzliche Nacht“,
sagt Hussain Muttar. Der Ingenieursstudent ist zugleich Künstler, mit Hilfe
des deutschen Goethe-Instituts hat er gerade einen Fotoband über das
historische und das heutige Bagdad herausgebracht.
In der Universität war er seit Wochen nicht mehr. „Wir streiken“, sagt der
21-Jährige. Das Camp der Protestierenden rund um den Tahrir-Platz im
Zentrum Bagdads gleicht einer Protestrepublik mit Einlasskontrollen und
eigenen „Ministerien“ für Sicherheit oder Gesundheit. Hussain Muttar
übernimmt hier Schichten im ärztlichen Team. „Wir haben einen gemeinsamen
Gegner“, sagt Muttar. Er meint damit die heute herrschende, korrupte Elite
des Landes. Und er richtet sich gegen eine bestimmte Art des Denkens. „Ein
Denken in Kategorien von Zerstörung, Mord und Diktatur“, sagt Muttar, „eine
Sicht, die immer die Oberhand behalten muss, koste es, was es wolle.“
Die Mehrheit der heute im Irak protestierenden Menschen ist jung, oft sehr
jung. Doch die Jugend bekommt auch Unterstützung von erfahreneren Kräften.
Etwa von der irakischen Anwaltskammer. Sie ist auf dem Tahrir-Platz in
Bagdad mit mehreren Info-Ständen vertreten, aber auch von Menschen aus den
wohlhabenderen Vierteln Bagdads, wie Hussain Muttar erzählt. Vor wenigen
Wochen hätten sich auch die Reichen in ihren schicken Wagen durch wilde
Fahrten der nächtlichen Ausgangssperre widersetzt.
## Die Demonstrationen lassen Bruchlinien verschwinden
Untypisch im Vergleich zu den früheren Aufständen gegen die grassierende
Korruption und die Perspektivlosigkeit der Jugend ist auch, dass so viele
Frauen auf die Straßen gehen. Etwa Sarah al-Zubaidi, eine junge
Filmemacherin aus Kerbela. Sie sagt: „Erst die Demonstrationen haben das
wahre Gesicht unserer Stadt offengelegt. In Kerbela gab es
traditionellerweise viele Einschränkungen für Frauen. Doch heute gehen sie
Seite an Seite mit den Männern auf die Straße.“
Es scheint, als ließen die Proteste die vielen Unterschiede und Bruchlinien
im Irak nach und nach verschwinden. Jahrelang wurden die Spannungen
zwischen schiitischen und sunnitischen Muslimen aktiv geschürt, auch
seitens des einflussreichen Nachbarn Iran. Die verschiedenen sozialen
Gruppen ließen sich auf diese Weise sehr leicht gegeneinander ausspielen.
Die seit Wochen anhaltende Revolutionsstimmung auf dem Tahrir-Platz in
Bagdad nährt nun aber die Utopie eines geeinten und gerechteren Iraks.
Eine Vision, die auch immer schon eine klare Absage an den Nachbarn Iran
beinhaltet. Doch der will wiederum seinen Einfluss hier nicht verlieren.
Die Mullah-Diktatur in Teheran setzt ökonomisch wie geostrategisch auf
einen instabilen, von ihr abhängigen Irak.
Kein Wunder, dass viele Iraker*innen sich nur als Schachfiguren auf dem
Spielfeld lokaler und internationaler Politiker begreifen. Deshalb ist der
Tahrir-Platz, der „Platz der Befreiung“, als Symbol für die aktuelle
Protestbewegung so wichtig. Durch ihre Dauerpräsenz demonstrieren die
Menschen für ihr Recht auf Mitsprache, Teilhabe und Mitgestaltung. Schon
allein für diese nun weit verbreitete Haltung und Stimmung habe sich der
Aufstand gelohnt, sagt Hussain Muttar. Trotz der vielen Verletzten und
Toten. „Wir werden unsere Meinung nicht mehr verstecken, wir werden nicht
mehr stillstehen wie früher, wir werden auf den Straßen bleiben. Selbst
wenn sie jeden einzelnen von uns umbringen wollen. Alles hat sich
geändert.“
## Eine ehemalige IS-Hochburg blüht wieder auf
Die landesweiten Proteste begannen am 1. Oktober nach einer Phase relativer
Ruhe in Irak. Die berühmte Mutanabbi-Straße, die „Straße der Bücher“ im
Herzen Bagdads, blühte auf, in der früheren IS-Hochburg Mossul fand nach
Jahren wieder ein Literaturfestival statt. Auswärtige Kultureinrichtungen
wie das deutsche Goethe-Institut organisierten kulturelle Events über
Programme wie „Spotlight Iraq“ und vergaben kleinere Stipendien an lokale
Kunstinitiativen. Wegen der Revolte und der Auseinandersetzungen wurde die
Auftaktveranstaltung der Deutschen kurzfristig von Bagdad nach Erbil
verlegt.
Im Garten eines Erbiler Kulturzentrums steht also Amin Muqdad, der Geiger,
und muss nun das Orchester bremsen. „Sie möchten unbedingt in Bagdad auf
dem Tahrir-Platz spielen“, sagt er lächelnd. „Ich bin eigentlich dagegen.
Aber so wie ich die Jungs und Mädchen kenne, machen sie das, egal was ich
sage.“
Die Geigenkästen der 16 Musiker*innen sind bunt bemalt und mit Sprüchen
versehen. Das sehe schön aus, meint Muqdad, und verhindere auch, dass man
die Koffer an den Checkpoints für Gewehrverstecke halte. Mustafa Salim,
einer der jungen Musiker hat auf seinen Geigenkasten „Achieve your dream“
gepinselt – erfülle deinen Traum. Vielleicht wird es ja dieses Mal
tatsächlich etwas, mit dem Traum von einem besseren Irak.
16 Dec 2019
## LINKS
[1] /Mossul-nach-der-IS-Herrschaft/!5543590
[2] /Eskalierende-Proteste-im-Irak/!5633778
[3] /Protest-im-Irak/!5643962
## AUTOREN
Christopher Resch
## TAGS
Protest
Tahrir-Platz
„Islamischer Staat“ (IS)
Irak
Politische Kunst
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Schwerpunkt Pressefreiheit
Irak
Mossul
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