# taz.de -- Atomenergie und Klimaschutz: Falsche Klimafreunde | |
> Mit Atomkraft ließen sich die Klimaziele leichter erreichen, behaupten | |
> Lobbyisten der Nuklearindustrie. Doch das stimmt nicht. | |
Bild: Klimaneutrale Atomkraft? Von wegen! | |
Fans der Atomindustrie wittern in Zeiten der Klimakrise Morgenluft. Mit | |
einem verlängerten Betrieb oder dem Neubau von angeblich CO2-freien | |
Atomkraftwerken ließen sich die Klimaziele leichter erreichen, behaupten | |
die Nuklearindustrie und ihre politischen Verbündeten. Unter dem Motto | |
„Sundays for Future“ organisierte die internationale Atomlobby-Organisation | |
Nuclear Pride Coalition zuletzt am 20. Oktober weltweit Aktionen und Demos. | |
Vorfeldorganisationen der Atom- und Kohleindustrie, die Initiative Neue | |
Soziale Marktwirtschaft, Stiftungen und industrienahe | |
Scheinbürgerinitiativen wie Nuclear Pride oder Bürger für Technik | |
engagieren sich für Atomkraft und Kohlekraftwerke und bekämpfen die | |
erneuerbaren Energien. Zu den Fürsprechern der Atomkraft gehört auch Bill | |
Gates. Er soll sich, wie die Washington Post berichtete, kürzlich mit | |
Abgeordneten des US-Kongresses getroffen haben, um sie von den | |
vermeintlichen Vorzügen der Atomenergie zu überzeugen. In einem offenen | |
Brief schrieb er: „Kernenergie ist ideal, um dem Klimawandel zu begegnen, | |
weil es die einzige CO2-freie, skalierbare Energiequelle ist, die 24 | |
Stunden am Tag verfügbar ist.“ Microsoft-Gründer Gates besitzt die Firma | |
TerraPower, die an neuartigen Reaktoren forscht. | |
Ende November änderte das Europaparlament einen Beschluss zur | |
Klimakonferenz in Madrid dahingehend, dass Atomkraft jetzt als Klimaretter | |
bezeichnet wird. Der Änderung stimmten 38 deutsche Parlamentarier:innen von | |
CDU/CSU, FDP und AfD zu, 52 votierten dagegen. Ex-EU-Kommissar Günther | |
Oettinger (CDU) hält Atomkraft ohnehin für unverzichtbar. Und sein | |
Parteifreund NRW-Ministerpräsident Armin Laschet beklagte kürzlich, dass | |
[1][der Atomausstieg] zu früh erfolgt sei. | |
Auch in die taz verirrte sich ein Pro-Atom-Beitrag. Unter der Überschrift | |
„Atomenergie als kleineres Übel“ bemängeln die beiden Gastautor:innen der | |
taz Panter Stiftung, darunter ein Mitarbeiter des AKW-Betreibers EnBW, dass | |
Deutschland „durch den Druck Grüner“ die Atomforschung weitgehend | |
eingestellt habe. [2][Weitsichtigere EU-Nachbarn] überbrückten dagegen die | |
Zeit bis zur Energiewende mit Atomkraft. | |
Was ist dran an der „klimaneutralen Atomkraft“? Umweltverbände und | |
Antiatomkraft-Organisationen haben begonnen, die Lobby-Argumente einem | |
Faktencheck zu unterziehen. So decken alle AKWs auf der Erde derzeit 2 | |
Prozent des weltweiten Energiebedarfs und etwa 10 Prozent des Strombedarfs. | |
Um den globalen CO2-Ausstoß auch nur wenig zu senken, bräuchte es enorm | |
viele neue Reaktoren. Die könnten aber gar nicht so schnell gebaut werden, | |
wie es für den Klimaschutz nötig wäre. Da der Energiebedarf steigt, dürften | |
alte Meiler auch nicht vom Netz gehen. | |
Um die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, müssten die weltweiten | |
CO2-Emissionen von heute 37 Milliarden Tonnen bis 2050 auf unter 5 | |
Milliarden Tonnen sinken. Zu diesem Szenario könnte Atomkraft nach Angaben | |
des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie gerade mal 5 Prozent | |
beitragen. Und selbst dafür müssten tausend AKWs neu gebaut werden – eine | |
groteske Vision. | |
Zudem ist Atomkraft gar nicht klimaneutral. Der Abbau, das Zermahlen, das | |
Aufbereiten und Umwandeln von Uranerz zu Reaktorbrennstoff verursacht laut | |
dem Umweltbundesamt ebenso Emissionen wie die Behandlung und Lagerung der | |
radioaktiven Abfälle, der Abriss der AKWs und die Renaturierung der | |
Uranfördergebiete. Mit fortschreitender Ausbeutung der Uranminen | |
verschlechtert sich die Bilanz. Die CO2-Emissionen, die noch für die | |
Endlagerung entstehen werden, sind nur schwer absehbar. | |
Atomkraft ist und bleibt extrem gefährlich und teuer. Auch im sogenannten | |
Normalbetrieb geben AKWs Radioaktivität an die Umwelt ab. Die alternativen | |
Energiequellen sind inzwischen viel kostengünstiger als Atomstrom. | |
Betriebswirtschaftlich lohnt sich der Bau von AKWs nicht mehr, die Kosten | |
haben sich vervielfacht. Auf 6 Milliarden Euro beziffern Experten etwa die | |
Kosten für den Bau des französischen Superreaktors Flamanville. Deswegen | |
gehen Atomkraftwerke auch fast nur noch in Diktaturen, Halbdiktaturen und | |
in Ländern, in denen die Atomindustrie staatlich ist oder extrem | |
subventioniert wird, neu ans Netz. Die viel bemühte Entwicklung neuer, nun | |
aber wirklich absolut sicherer Reaktortypen wie etwa Fusionsreaktoren | |
stockt. In den nächsten zwanzig Jahren stehen diese Technologien nicht zur | |
Verfügung. | |
## Unkalkulierbare Risiken | |
Schließlich stellt die Endlagerung vor allem von hoch radioaktivem Atommüll | |
Regierungen weltweit vor große, bisher nicht ansatzweise gemeisterte | |
Herausforderungen. Das birgt auch unkalkulierbare technische, logistische | |
und finanzielle Risiken, wie aus dem kürzlich veröffentlichten World | |
Nuclear Waste Report – Focus Europe hervorgeht. | |
Allein in Europa – ohne Russland und die Slowakei – werden demnach mehr als | |
60.000 Tonnen abgebrannter Brennstäbe in Zwischenlagern gebunkert, weil | |
kein Land bislang ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle in Betrieb | |
genommen hat. Dem Report zufolge sind zudem in Europa bislang mehr als 2,5 | |
Millionen Kubikmeter radioaktive Abfälle angefallen. Über ihre gesamte | |
Lebensdauer hinweg produzieren die europäischen Atomkraftwerke rund 6,6 | |
Millionen Kubikmeter an strahlendem Müll. | |
Der Report wurde von einem Dutzend internationaler Wissenschaftler:innen | |
verfasst. Er ergänzt den etablierten World Nuclear Industry Status Report, | |
der jedes Jahr von einem Team um den Atomexperten Mycle Schneider | |
herausgegeben wird. Auch siebzig Jahre nach Beginn des Atomzeitalters hat | |
kein Land der Welt eine wirkliche Lösung für die strahlenden | |
Hinterlassenschaften der Atomkraft gefunden. | |
14 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Reimar Paul | |
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