| # taz.de -- Fotoband zum Nachwendejahr 1990: Am Rand der Erinnerung | |
| > Kurz nach der Wiedervereinigung war eine Phase des Umbruchs. Jan Wenzel | |
| > erkundet in „Das Jahr 1990 freilegen“ diese längst vergessene Zeit. | |
| Bild: Containerfiliale im Neubaugebiet Leipzig Grünau 1990 | |
| Es ist merkwürdig genug: Noch am 2. Oktober 1990 brachte die Post der DDR | |
| ihre letzten Sonderbriefmarken heraus. Mit zwei Motiven würdigten sie den | |
| Troja-Archäologen [1][Heinrich Schliemann]. Was seinerzeit dem | |
| kalendarischen Zufall seines 100. Todestages geschuldet war, besitzt längst | |
| symbolischen Wert. Denn gefeiert wurde am Tag darauf nicht allein die | |
| deutsche Einheit. Dieses Datum markiert zugleich den Beginn eines | |
| schleichenden Vergessens – die zurückliegenden Monate wurden verschüttet. | |
| Beobachten lässt sich das kaum besser als gerade jetzt: Es sieht jedenfalls | |
| nicht danach aus, dass dem Festakt zum 30. Jahrestag des Mauerfalls in den | |
| kommenden Monaten weitere folgen werden. Dabei gibt es mehr als genug, | |
| woran sich erinnern ließe: Die insgesamt 16 Mal live im DDR-Fernsehen | |
| übertragenen Debatten am Runden Tisch, die Besetzung der | |
| [2][Stasi-Zentralen], die Volkskammerwahlen im März, ja vielleicht sogar | |
| die Gründung der Treuhandgesellschaft, schließlich die Währungsunion im | |
| Sommer. | |
| Die vielleicht beste Nachricht des Jahres kam übrigens gar nicht aus | |
| Deutschland: Nach 27 Jahren politischer Gefangenschaft wurde Nelson Mandela | |
| am 11. Februar 1990 aus dem Gefängnis Robben Island entlassen. Fraglos | |
| erinnern wir uns noch immer an diesen einzigartigen Moment der jüngeren | |
| Geschichte Südafrikas. Die atemlosen letzten Monate der DDR aber sind | |
| inzwischen zu einer Sache zeithistorischer Ausgrabungen geworden – und in | |
| Jan Wenzel haben sie einen brillanten Archäologen gefunden. Im Leipziger | |
| Verlag Spector Books, den Wenzel als einer von drei Verlegern leitet, | |
| erscheint jetzt ein Buch, für dessen fast 600 Seiten man sich viel Zeit | |
| nehmen sollte, am besten wohl ein ganzes Jahr. | |
| ## Mehr als eine Chronik | |
| Denn was so unaufdringlich „Das Jahr 1990 freilegen“ heißt, das ist weit | |
| mehr als die Chronik der sich entfaltenden Ereignisse. Als eine | |
| vielschichtige Montage aus Texten und Bildern, aus Stimmen und Blicken | |
| produziert das Buch eine paradoxe Erfahrung: Die zwölf Monate von 1990 | |
| waren eine Zeit des „noch nicht und doch schon“. Selten hat [3][Ernst | |
| Blochs] Wort von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen so gut gepasst | |
| wie hier; und gerade in dieser Brüchigkeit liegt die Faszination, die | |
| Wenzels archäologische Suchbewegung produziert. | |
| Es war Hans Ulrich Gumbrecht, der für das Jahr 1926 bereits Ähnliches | |
| unternommen hatte; seine Formel lässt sich ohne Umstände übertragen: „Ein | |
| Jahr am Rand der Zeit“. Doch während Gumbrecht seinerzeit allein als Autor | |
| auftrat, ist Wenzel in der Kennzeichnung seiner Rolle konsequenter. Bereits | |
| auf dem Titelblatt versammelt er mehr als einhundert Namen, die auf | |
| verschiedene Weise zu dieser polyphonen Montage beigetragen haben. | |
| „Das Jahr 1990 freilegen“ ist ein Buch aus lauter Büchern; und zugleich | |
| gewährt es Blicke in fotografische Archive, die hier zum ersten Mal | |
| überhaupt in solcher Breite ausgewertet werden. In einer glücklichen Formel | |
| nennt Wenzel sein Verfahren einen fortgesetzten Akt „performativen Lesens“. | |
| ## Ausschnitte aus Bildarchiven | |
| Bereits im vergangenen Jahr, anlässlich des von ihm mit Anne König | |
| kuratierten f/stop-Festivals, machte er die ersten Ergebnisse solcher | |
| Lektüren öffentlich, als eine begehbare Installation in der Leipziger | |
| Innenstadt. Im Ausstellungsraum wiederum wurden Ausschnitte aus den | |
| Bildarchiven präsentiert. Zurück ins Buch übersetzt, gewinnt das Projekt | |
| etwas Zwingendes: Denn entscheidend ist nicht das bloße Nebeneinander, | |
| sondern vielmehr das Miteinander all dieser Quellen. So stehen die von | |
| Günter Gaus mit Bürgerrechtlerinnen geführten Interviews neben | |
| Tagebucheinträgen von Kurt Biedenkopf und Thomas Rosenlöcher. | |
| Und das karge Schwarz-Weiß der Fotostrecken von Christian Borchert, Gerhard | |
| Gäbler, Ute Mahler oder Michael Schmidt hebt sich unübersehbar von jenen | |
| glitzernden Magazinseiten ab, die für ganz neue Produktideen werben: | |
| Laptops und Mobiltelefone. 32 eigens für diesen Band geschriebene | |
| Miniaturen von Alexander Kluge konturieren diese historischen Dokumente | |
| schließlich durch fiktionale Stimmen. | |
| „Das Jahr 1990 freilegen“ erinnert in seiner Struktur an [4][Walter | |
| Kempowskis] Echolot-Projekte und an die von Wenzel im Untertitel zitierten | |
| „Remontagen der erlittenen Zeit“ von Georges Didi-Huberman. Als eine durch | |
| den Grafiker Wolfgang Schwärzler eingerichtete Montage aber reicht der | |
| Anspruch des Buches tatsächlich deutlich weiter: Nicht selten wird es in | |
| den Textstrecken zu einem Labyrinth sich gegenseitig bespiegelnder Zitate | |
| verdichtet. | |
| ## Tiefe Einblicke | |
| Dann wieder öffnet es sich zu Bildstrecken, die über die Doppelseiten | |
| hinweg tiefe Einblicke gewähren in eine Zeit, die merkwürdig weit entfernt | |
| liegt. Erinnert wird an die Stimmen von Bürgerrechtlerinnen und | |
| Bürgerrechtlern, die vollkommen zu Unrecht vergessen worden sind: Ingrid | |
| Köppe etwa oder Konrad Weiß. Rekonstruiert wird auch das Projekt einer | |
| alternativen Wochenzeitung, die programmatisch Die Andere hieß und wohl | |
| nicht zufällig der taz ein wenig ähnlich sah. Vor allem aber kann man die | |
| Stimme von Martin Gross entdecken. Bereits 1992 hatte er das | |
| Erinnerungsbuch „Das letzte Jahr“ publiziert; aus seinen präzisen | |
| Beobachtungen wird hier ausführlich zitiert. Auch das übrigens ist | |
| merkwürdig: Von diesem hellsichtigen Autor haben sich seither alle Spuren | |
| verloren. | |
| 2 Dec 2019 | |
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| [1] /Troja-Museum-in-der-Tuerkei/!5565089 | |
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| [3] /Philosoph-Ernst-Bloch/!5197144 | |
| [4] /Zum-Tod-Walter-Kempowskis/!5193916 | |
| ## AUTOREN | |
| Steffen Siegel | |
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