# taz.de -- Zum Tod Walter Kempowskis: Ein Chronist deutscher Geschichte | |
> Bis zuletzt ließ der schwer kranke Walter Kempowski sich nicht | |
> unterkriegen, hielt Lesungen und schrieb weiter an seinem Tagebuch. Jetzt | |
> hat ihn der Krebs doch besiegt. | |
Bild: Walter Kempowski beim Festakt anlässlich seines 75. Geburtstags vor drei… | |
In "Tadellöser & Wolff", dem Roman, der Walter Kempowski 1971 berühmt | |
gemacht hat, erinnert sich der Erzähler an seinen Spielzeugfuhrpark: "Ich | |
war Spediteur. Drei Märklin-Fernlaster mit weißer Rautenleiste an der | |
Ladefläche und aufsetzbarer Leinenplane. Sie rückwärts in den Hof zu lotsen | |
und auf den Millimeter genau nebeneinanderstellen. Reifenspuren | |
hinterlassen ..." Der junge Walter hätte, wie der alte Walter schrieb, gern | |
"fünf von den Dingern haben mögen oder zehn. Den Kopf auf die Tischplatte | |
legen, dran entlangkucken, Kühler an Kühler." Mit dieser liebevollen | |
Millimetergenauigkeit hat Kempowski Abertausende solcher Nahaufnahmen aus | |
dem Menschenleben zusammengetragen, sortiert und in Kapiteln collagiert, | |
bis aus den Kapiteln Romane erwuchsen und aus den Romanen ein Zyklus | |
entstand, die "Deutsche Chronik" einer bürgerlichen Familie, von der | |
Kaiserzeit - "Seid verwöhnt! Raucht Welp-Zigarren!" - bis zur Ära Adenauer: | |
"Wandsbek, Bärenstraße 7a: Eine Baracke mit Pappwänden, drei Zimmer, Küche, | |
Klo." | |
Als Kempowski 1956 in der Bundesrepublik eintraf, hatte er acht Haftjahre | |
in Bautzen abgesessen, verknackt wegen "Spionage", weil er als | |
Achtzehnjähriger amerikanischen Geheimdienstleuten Dokumente über die | |
Demontage der Sowjetzone zugespielt hatte: "Eigentlich hatte ich nichts | |
gegen die Ausplünderung, das taten die Amerikaner ja in ihrer Zone auch, | |
das war irgendwie ihr gutes Recht. Aber das mußte doch aufgeschrieben | |
werden, damit die Reparationszahlungen nach dem Friedensvertrag nicht | |
wieder von vorne losgingen. Daß überhaupt kein Friedensvertrag kam, wußten | |
wir ja damals nicht." Die erhoffte Anerkennung als politischer Gefangener | |
wurde ihm in der Bundesrepublik versagt. Er bekam sogar zu hören, daß er | |
nichts weiter sei als ein gewöhnlicher Krimineller, und er konnte zusehen, | |
wo er blieb. Den Neuaufbau einer bürgerlichen Existenz mußte er aus dem | |
Nichts heraus beginnen, so wie Millionen andere Kriegsheimkehrer, | |
Flüchtlinge, Vertriebene, ausgebombte Obdachlose, "Umsiedler" und displaced | |
persons in der Wüstenei, die das ebenso mörderische wie selbstmörderische | |
Regime der Nationalsozialisten den Überlebenden des Zweiten Weltkriegs | |
hinterlassen hatte. | |
In der Untergangszeit des "Dritten Reichs" hatte sich der langhaarige, | |
jazzmusikverliebte "Swingboy" Kempowski dem Dienst in der Hitlerjugend und | |
den Pflichten als Flakhelfer so weit wie möglich zu entziehen versucht, und | |
nach der vorzeitigen Haftentlassung - 1948 war er zu 25 Jahren Knast | |
verurteilt worden - schwankte er zwischen der Versuchung, sich an das | |
Gefühl des Weltekels zu verlieren, und der Aussicht, es allen noch einmal | |
zu zeigen und sich aus eigener Kraft zu rehabilitieren. | |
Dieses Ziel hat Kempowski erreicht, obwohl er unterwegs die aberwitzigsten | |
Hürden bemeistern und bittere Enttäuschungen erdulden mußte. Sein | |
Haftbericht "Im Block", der 1969 im Rowohlt Verlag erschien, nach Jahren | |
der Recherche, des Umschreibens und des sicherlich für beide Seiten | |
strapaziösen Tauziehens zwischen dem Autor und seinem bei Rowohlt | |
angestellten Mentor und Entdecker Fritz J. Raddatz, war ein Flop. Bis Ende | |
1970 wurden nur knapp zweitausend Exemplare verkauft. Eine weitere herbe | |
Zwischenbilanz hat im Jahre 2004 Kempowskis aktenkundiger Biograph Dirk | |
Hempel gezogen: "Im zweiten Halbjahr 1970 waren von 72 ausgelieferten | |
Exemplaren 68 remittiert worden, Reinverkauf 4 Bücher, Bruttohonorar 6,01 | |
DM." | |
Zu diesem Zeitpunkt hatte Kempowski sich zwar als Grundschullehrer | |
etabliert, und er war nicht finanziell notleidend, aber man stelle sich | |
einmal den Mittag vor, an dem Kempowski den Honorarbescheid aus Reinbek | |
erhielt, aus dem hervorging, daß sich von Juli bis Dezember 1970 nur vier | |
Menschen dazu bereitgefunden hätten, dieses in so vielen Jahren der Arbeit | |
unter unendlichen Geburtsbeschwerden produzierte und von acht Jahren der | |
Drangsal handelnde Buch zu kaufen. Und über alledem lastete das Gefühl der | |
Schuld für die Jahre der Gefängnishaft, in die Kempowski seine Mutter mit | |
der unseligen Frachtbriefgeschichte unfreiwillig hineinmanövriert hatte. | |
1969 hatten die meisten Westdeutschen etwas anderes vor, als sich mit dem | |
Bericht eines Häftlings aus Bautzen zu befassen. Der Durchbruch zum großen | |
Publikum glückte Kempowski erst 1971 mit dem Familienroman "Tadellöser & | |
Wolff", und Eberhard Fechners TV-Verfilmung der Romane machten Kempowskis | |
Namen einem nach Millionen zählenden Leserkreis bekannt. Nun war er zwar | |
ein Bestseller-Autor, der beim Volk gut ankam, doch im Unterschied zu Böll | |
und Grass und Lenz zog er alsbald den Groll vieler Neider und Deppen auf | |
sich, die in ihm einen Reaktionär und Kalten Krieger erblickten, der die | |
Nazizeit verharmlose. Daß Kempowski in seinen Romanen und Befragungsbüchern | |
- "Haben Sie davon gewußt?" - den Erinnerungsbildern, Traumblasen und allem | |
abgesunkenen Strund der Nazizeit auf den Grund ging, wie ein | |
Tiefseeforscher, ist von seinen Verächtern nicht einmal wahrgenommen | |
worden. | |
Aus Zuneigung zu den Menschen, denen das Rad der Geschichte über den Nacken | |
gewälzt worden war, entschloß Kempowski sich dazu, in seinem Haus ein | |
Archiv unpublizierter Autobiographien einzurichten. Aus diesem Archiv ist | |
das zehnbändige "Echolot" hervorgegangen, mit Zeitzeugnissen und Auszügen | |
aus Tagebüchern und Briefen, die ohne Kempowskis Engagement für alle Zeiten | |
verloren gewesen wären. Eine weitere Säule in Kempowskis Lebenswerk bilden | |
die Tagebücher, in denen er noch jeden "Kenner" seines Werks immer wieder | |
überrascht und übertölpelt hat: "Ich bin der Sonnyboy der deutschen | |
Gegenwartsliteratur", schrieb er 1983. "Ein hingeschissenes Fragezeichen." | |
Kennengelernt habe ich Kempowski 1984, als jugendlicher, | |
vorurteilsbefrachteter und auch sonst recht dusseliger Teilnehmer eines | |
Literaturseminars im "Haus Kreienhoop" in Nartum. Da gab er sich, zu meiner | |
Überraschung, als kundiger Leser von Arno Schmidt zu erkennen, rühmte auch | |
das von mir damals favorisierte, ja: geliebte Haßbuch "Rom, Blicke" aus dem | |
Nachlaß von Rolf Dieter Brinkmann und lud mich dazu ein, im nächsten Sommer | |
einige Zeit in seinem Haus zu verbringen, gemeinsam mit anderen jungen | |
Leuten, die bei ihm wohnen dürften, solange seine Frau im Urlaub sei: Er | |
selber könne sich fürs Urlaubmachen nicht erwärmen; da umgebe er sich | |
lieber mit Jugend, die ihn dann freilich zu bekochen habe. Und es dürften | |
nicht nur Spiegeleier gebraten werden! | |
Am letzten Abend des Seminars war Schwof angesagt. Zu später Stunde setzte | |
sich Kempowski an den Flügel und spielte, in einer getragenen Version, das | |
Deutschlandlied. Ich kriegte eine Gänsehäut. Das sei geschmacklos gewesen, | |
sagte ich zu ihm, und da wandte er sich wortlos ab (was mich schmerzlich | |
berührte). Seine Antwort erhielt ich erst einige Wochen später schriftlich: | |
"Es tut mir leid Ihnen sagen zu müssen, daß zu unserer Sommergemeinschaft | |
wortloses Verstehen gehört. Vor der Frage steht das Nachdenken, und zum | |
Nachdenken gehört Sympathie - und sie eben ist nötig, wenn wir hier wie | |
eine Familie drei oder vier Wochen gemeinsam verbringen wollen. Aus diesem | |
Grunde muß ich meine Einladung an Sie leider rückgängig machen." Das war | |
kurz nach Nikolaus. Unmittelbar vor Weihnachten revidierte Kempowski seine | |
Entscheidung: "Also, meine Mädchen vom Sommerklub haben mir sehr | |
eingeheizt, sowas könnt' ich doch nicht machen, und das gefällt ihnen gar | |
nicht, daß ich den Gerhard wieder auslade. Dies hab ich mir inzwischen auch | |
überlegt und vielleicht sollte ich mich sogar entschuldigen für meine | |
abrupte Reaktion. Es würde mich freuen, wenn ich den Brief ungeschehen | |
machen könnte, und ich erneuere die Einladung zum Sommerklub hiermit, | |
allerdings unter einer Bedingung: Daß mir vaterländische Diskussionen unter | |
der norddeutschen Sonne erspart bleiben." | |
Und so kam es, daß ich bei ihm doch noch ein- und ausgehen durfte, | |
bespöttelt als "zigarrerauchender Vaterlandsfeind". Das offene Haus, das | |
Kempowski bewohnt hat, darf man sich, nach einer buchtitelstiftenden | |
Formulierung von Dirk Hempel, als "Kempowskis zehnten Roman" vorstellen: | |
Für unzählige Kempowskianer ist es Museum, Kloster, Aula, Bahnhofscafé, | |
Internat und Audimax in einem gewesen; so eine Art Summerhill für | |
freigeistige Literaturliebhaber. In einem der sorgfältig geführten | |
Gästebücher findet sich der launig anmutende Eintrag des Literaturkritikers | |
Hanjo Kesting: "Et ego in Kempowskia." | |
Das trifft es. Kempowski hat jedermann an sich herangelassen und den | |
Kontakt zu seinen Lesern gesucht, anders als der von ihm verehrte Arno | |
Schmidt, der sich in seinem "furchtbaren Heidebunker" (Jörg Schröder) | |
verkriechen mußte, um in Ruhe arbeiten zu können. Kempowski hingegen führte | |
mitunter ganze Busladungen neugieriger Rentner und Touristen durch sein | |
Haus, lauter Volk, das ihm dann auch noch Erstausgaben der Bücher von Arno | |
Schmidt klaute und so gut wie nie das Versprechen hielt, zum Dank Abzüge | |
der beim Rundgang geschossenen Fotos zu schicken. Profitiert hat Kempowski | |
dennoch von seiner in Maßen kultivierten Leutseligkeit. Der isolierte, zu | |
dauerhaften Freundschaften unbegabte Tüftler Schmidt, der sich in seinem | |
Leben nur einer einzigen öffentlichen Lesung ausgesetzt hatte, verbohrte | |
sich zuletzt immer tiefer in den Hieroglyphen seines Spätwerks, weil ihn | |
die Leser, wenn sie nicht Jean Paul oder Ludwig Tieck hießen, eben nicht | |
interessierten. Kempowski hielt es dagegen mit Hitchcock, der den | |
allergrößten Wert auf Suspense gelegt hatte: Wie fesselt man das Publikum? | |
Und wie sind Erstklässler zu bändigen? Zugute gekommen sind Kempowski beim | |
Schreiben auch seine Erfahrungen als Grundschullehrer, der jahrelang jeden | |
Morgen einen Haufen ungebärdiger Lümmel und Gören zur Konzentration | |
verhelfen mußte. In fast jedem Satz der "Chronik" schimmern Sound und | |
Struktur uralter Schultafeltexte durch: "Zuweilen wurde auch die Sicherheit | |
des Kellers erörtert. Die Waschküche mit dem Abflußsiel lag höher als der | |
Luftschutzkeller. Das sei eine Mausefalle. Bei Wasserrohrbuch, gute Nacht." | |
Im Mosaik solcher Details haben viele Deutsche ihre Vergangenheit | |
wiedererkannt und Kempowski einen unerhörten Erfolg beschert. Seither gilt | |
Kempowski als "Volksschriftsteller", obwohl er sich vor dem Wort geradezu | |
geekelt hat: Das habe etwas "Nazistisches", das ihm zuwider sei, hat er | |
gesagt. | |
Mit dem Ex-Bautzen-Häftling Kempowski haben die linksliberalen | |
Kulturjournalisten in der Bundesrepublik viele Jahre lang nichts zu tun | |
haben wollen. Ein Dämelklaas hat Kempowski 1990 im Stern als Plagiator | |
bloßzustellen versucht, und es fehlte auch sonst nicht an übler Nachrede. | |
Manche häßlichen Äußerungen, die in der Welt sind, mag Kempowski durch sein | |
ungestümes Wesen selbst provoziert haben, aber ich habe mich immer gefreut, | |
wenn ich ihn beim Zappen in einer Talk-Show vorfand: Da brachte er oftmals | |
mit frechen Bemerkungen alle gegen sich auf und ließ die Sturzbäche der | |
Schimpftiraden souverän an sich abperlen. | |
Wer sich mit der Geschichte des deutschen Bürgertums vom Wilhelminismus bis | |
zur Adenauerzeit vertraut machen möchte, der ist gut beraten, wenn er die | |
Romane von Kempowski liest. Im "Echolot" gibt es darüber hinaus die | |
entsetzlichsten Beschreibungen des Elends im belagerten Leningrad zu lesen: | |
Tischlerleim hatten die Russen damals gefressen in ihrer Not. Das alles | |
steht verzeichnet in den Büchern von Walter Kempowski, der sich trotz | |
alledem so oft dem Vorwurf ausgesetzt gesehen hat, daß er die Vergangenheit | |
verniedliche. Noch 1999 hat ein Germanist in einem Buch mit dem Obertitel | |
"Abiturwissen Deutsch" die Werke von Walter Kempowski der | |
"Unterhaltungsliteratur" zugeordnet, zwischen denen von Hera Lind und | |
Johannes Mario Simmel (Claus J. Gigl heißt dieser Heini, der in seinem Buch | |
zu allem Überfluß auch noch den Vornamen von Walter Kempowski falsch | |
buchstabiert hat.) | |
Von den Kritikern sind Kempowskis Werke oft gelobt, aber oft auch | |
oberflächlich abgekanzelt worden. Bei aller Liebe zu Robert Gernhardt, der | |
1984 im Spiegel Kempowskis Roman "Herzlich willkommen" verriß, bleibt | |
festzustellen, daß der Roman sich besser gehalten hat als der Verriß, der | |
Kempowski nicht aus der Bahn geworfen, aber irritiert hat: Das sei doch, | |
soll er gesagt haben, eigentlich ein ganz ordentlicher Mann, dieser Herr | |
Gernhardt? | |
Kempowskis Hunger nach Kompensation und Anerkennung war enorm. Als | |
ehemaliger Knastbruder hat er sein Leben lang nach Auszeichnungen, Orden | |
und anderen Beweisen der Tatsache gelechzt, daß er aus der Einzelhaft | |
zurück in der Mitte der Gesellschaft angelangt sei. Viele Ehrungen, die er | |
angestrebt hat, sind ihm, auf seine alten Tage, zuteil geworden, und er hat | |
mehrmals erklärt, daß er sich nun am Ziel befinde und seine Erfüllung | |
gefunden habe. Aber jeder, der das Glück gehabt hat, ihn etwas näher | |
kennenzulernen, weiß, welche Preise er nun doch noch gern mit hinab ins | |
Grab genommen hätte (und wer sich nun schämen sollte). | |
Uns bleiben Kempowskis Bücher, Rücken an Rücken: Im kollektiven Gedächtnis | |
haben sie Tieferes hinterlassen als die Reifenspuren im Sandkasten des | |
Prinzen Walther von Aquitanien. | |
Aus dem Leben ist Kempowski, nach eigener Vorhersage, friedlich geschieden. | |
Es reiche ihm nun allmählich, hat er mir bei meinem letzten Besuch in | |
Nartum gesagt, in einer an Jean Paul erinnernden Gemütsverfassung: "Oh! Wie | |
schön ist das Sterben in der vollen leuchtenden Schöpfung und das Leben!' - | |
Und ich dankte dem Schöpfer für das Leben auf der Erde und für das künftige | |
ohne sie." | |
5 Oct 2007 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Henschel | |
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Kommentar Kempowski: Eine Sprache für sich | |
Walter Kempowski hat dem deutschen Bürgertum stets aufs Maul geschaut. Das | |
machte ihn bei den Linken verdächtig, die in ihm einen Volksschriftsteller | |
sahen. |