# taz.de -- Bevölkerungswachstum in Afrika: Die Demografie-Lüge | |
> Das Bevölkerungswachstum in Afrika gilt in Deutschland vor allem als | |
> Problem. Dabei ist es die Grundlage für Afrikas blühende Zukunft. | |
Bild: Alle Eltern der Jugendlichen, die es 2050 in Afrika geben wird, sind heut… | |
Was das Bevölkerungswachstum in Afrika angeht, sind sich Politiker und | |
Medien in Deutschland einig. Von einer „Herausforderung“ sprachen | |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel | |
bei der Eröffnung des Afrikagipfels in Berlin am 19. November. Merkel | |
nannte das Thema unter der Rubrik „Probleme“ gleich nach dem Terrorismus in | |
der Sahelzone. Journalisten hauen derber in diese Kerbe. | |
Auf die Aussage „Im Prinzip müssten 30 oder 40 Millionen Jobs in Afrika | |
geschaffen werden, damit es spürbar aufwärtsgeht“ Stefan Liebings, des | |
Vorsitzenden des Afrika-Vereins der deutschen Wirtschaft, entgegnet die | |
Journalistin Hella Kaiser [1][im Tagesspiegel-Interview]: „Ist es nicht | |
einfacher, erst mal die Geburtenrate zu senken?“ | |
[2][Die Kolumne „Mayers Weltwirtschaft“] in der Frankfurter Allgemeinen | |
Sonntagszeitung führte kurz vorher Afrikas Probleme – im Text „Unfähigkei… | |
– darauf zurück, dass die europäischen Kolonialherren „die afrikanischen | |
Stammesgesellschaften“ nicht „vollständig ausgerottet“ hätten. | |
Die Wahrnehmung, Afrikas Problem seien die AfrikanerInnen, ist weit | |
verbreitet auch unter Menschen, die nicht Schalke-Boss oder AfD-Politiker | |
sind und AfrikanerInnen nicht auf deren Fertigkeit reduzieren, [3][„wenn’s | |
dunkel ist, Kinder zu produzieren“.] In der europäischen Geistesgeschichte | |
galten AfrikanerInnen jahrhundertelang als mindere Wesen, sündenbehaftet, | |
trieb- statt vernunftgeleitet, „noch nicht in die Geschichte eingetreten“, | |
wie Nicolas Sarkozy erst 2005 formulierte. | |
## Der europäische Konsens sieht die Kinder als Problem | |
Im afrikanischen Konsens sind Kinder eine Bereicherung, eine | |
Zukunftsinvestition und Voraussetzung für Wohlstand. Der europäische | |
Konsens sieht afrikanische Kinder – nicht europäische – in ihrer schieren | |
Anzahl als Problem, das alle Fortschritte und Wachstumsraten zunichtemacht. | |
In Europa bemängelt man, dass so viele Kinder in Afrika leiden und | |
vernachlässigt werden. In Afrika bemängelt man genau dies in Bezug auf | |
Europas alte Menschen. | |
Dass Frauen in Niger durchschnittlich sieben Kinder bekommen und dass man | |
das ändern müsse, fehlt in kaum einer europäischen Politikerrede zu dem | |
Thema. In Niger selbst wird weniger die Anzahl problematisiert als die | |
Frage, ob die Frauen das frei entscheiden können oder gezwungen werden und | |
ob die Geburten nicht vielleicht zu dicht aufeinanderfolgen, sodass das | |
Einjährige zu verhungern droht, wenn der nächste Säugling auf die Welt | |
kommt und die Muttermilch für sich beansprucht. Und es wird darauf | |
hingewiesen, dass die meisten Bauernfamilien die eigenen Kinder als | |
Arbeitskräfte brauchen – erst recht, wenn sich mit dem Klimawandel die | |
Arbeitsbedingungen erschweren. | |
Auf dem Weltbevölkerungsgipfel in Nairobi vor zwei Wochen und auf der | |
Afrika-Bevölkerungskonferenz in Kampala direkt danach wurde viel über | |
Kinderrechte diskutiert, über Frauenrechte, Sexualaufklärung, | |
Diskriminierung, Behinderung, Brautpreise; vom Kampf gegen | |
Durchfallinfektionen im Tschad über Migration aus Sudan nach Saudi-Arabien | |
bis zum erneuten Trend zum dritten Kind in Algerien stellten Experten ihre | |
Erkenntnisse vor. Was man als Thema dieser beiden globalen Treffen | |
vergeblich suchte, war Bevölkerungswachstum als Bedrohung. | |
Aufzuhalten ist das Wachstum sowieso nicht. Die Hälfte der über 1 Milliarde | |
EinwohnerInnen Afrikas ist unter 19 Jahre alt. Wenn sie alle Familien | |
gründen und eigene Kinder bekommen, während Entwicklungsfortschritte die | |
Lebenserwartung der Alten verlängern, tritt die von der UNO prognostizierte | |
Verdopplung der afrikanischen Bevölkerung bis 2050 quasi automatisch ein. | |
Alle Eltern der Jugendlichen, die es dann in Afrika geben wird, sind heute | |
bereits geboren. | |
## Umkehr der globalen Machtverhältnisse | |
Selbst mit 2 Milliarden Menschen läge Afrikas Bevölkerungsdichte, derzeit | |
durchschnittlich 44 pro Quadratkilometer, aber noch um einiges unter der | |
heutigen der EU. Und wer immer noch behauptet, das Bevölkerungswachstum | |
Afrikas führe bloß zu Migrationsdruck und Ressourcenkriegen, ist in die | |
Geschichte des 21. Jahrhunderts noch nicht eingetreten und kennt das junge | |
Afrika der Smartphones und Solarzellen nicht, das zwar noch nicht die von | |
den Alten dominierte etablierte Politik erobert hat, aber die | |
Gesellschaften prägt und fortentwickelt. Über kurz oder lang sinken die | |
Geburtenraten natürlich auch in Afrika, so wie überall auf der Welt. Aber | |
die Afrikanerinnen selbst wollen entscheiden, wie viele Kinder sie bekommen | |
und von wem. | |
Das wird durchaus auch in Deutschland gesehen, aber noch nicht wirklich | |
erfasst. Um es mit Angela Merkel zu sagen: „Afrika hat eine junge | |
Bevölkerung, die aber auch unglaublich drängend ist.“ Fachleute beschwören | |
die „demografische Dividende“ als Geheimnis des Aufschwungs einer | |
Weltregion – das Zeitfenster, in dem es noch nicht sehr viele Alte gibt, | |
aber bereits mehr Kinder als früher das Erwachsenenalter erreichen und | |
daher der Anteil der Arbeitsfähigen an der Gesamtbevölkerung eine | |
Generation lang ungewöhnlich hoch ist. Europa hat das hinter sich. China | |
genießt es heute. | |
Derzeit befinden sich 70 Prozent der chinesischen Bevölkerung im | |
arbeitsfähigen Alter, mehr als in Europa und in den USA und vor allem mehr | |
als in Afrika mit 56 Prozent. Aber in fünfzig Jahren wird nach UN-Prognosen | |
China in dieser Rangliste das Schlusslicht bilden, mit 56 Prozent wie | |
Afrika heute, während Afrika mit 65 Prozent die Spitzenposition einnimmt. | |
Das bedeutet eine Umkehr der globalen Machtverhältnisse. China, in | |
Deutschland derzeit noch als kommende Weltmacht hofiert, hat durch seine | |
kurzsichtige Ein-Kind-Politik seine demografische Dividende verspielt. | |
China wird in wenigen Jahrzehnten vergreisen, so wie Japan heute, und | |
Afrika wird China als Werkbank der Welt ablösen. Und das nicht trotz, | |
sondern gerade wegen seiner Kinder. | |
3 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/kaiser-hella/6064416.html | |
[2] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mayers-weltwirtschaft/mayers-weltwir… | |
[3] /DFB-Ethikkommission-zu-Clemens-Toennies/!5621852 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
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