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# taz.de -- Ex-Präsident Lula da Silva freigelassen: Brasiliens Linke feiert
> Brasiliens Linke feiert die Freilassung des Ex-Präsidenten Lula da Silva.
> Aber das zeigt auch ihre Schwäche: Außer Lula ist da nicht viel.
Bild: Empfang für Lula vor dem Haus der Metallarbeitergewerkschaft in São Ber…
São Bernardo do Campo taz | Es war 14:31 als Luiz Lula Inácio da Silva die
Bühne des Lautsprecherwagens betrat. Jubel in Stadionlautstärke entbrannte,
Feuerwerk krachte in der Luft, Freudentränen flossen im Strömen. Tausende
waren gekommen, um Lula nach 580 Tagen in Haft zu sehen.
Der komplett in schwarz gekleidete Ex-Präsident teilte hart gegen den
derzeitigen Amtsinhaber Jair Bolsonaro aus und beendete seine emotionale
Ansprache mit einem Bad in der Menge. Lula in den Armen seiner
Anhänger*innen: Es waren diese Bilder, die Lula wollte. Ein fulminantes
Comeback. Doch was kommt jetzt?
Einige Stunden zuvor, ein eigentlich ruhiges Wohnviertel in der
Industriestadt São Bernardo do Campo in der Metropolregion São Paulo.
Autohäuser und Fast-Food-Restaurants säumen die Straße, die zur
Metallarbeitergewerkschaft führt.
Dort, wo der junge Lula einst seine politischen Gehversuche machte, haben
sich bereits in den Morgenstunden Tausende versammelt. Schlachtrufe
schallen durch die Straßen, rote Fahnen wehen im Wind, während
Bierverkäufer ihre Wagen geschickt durch die Menge bugsieren. Der Geruch
von Grillfleisch, Schweiß und Rauchbomben liegt in der Luft. Eine riesige
Plastikfigur von Lula guckt auf das Treiben herunter.
## Ein Meer aus roten T-Shirts und Fahnen
Auch Leonice da Silva ist gekommen, um „ihren Präsidenten“ zu sehen. „Wir
Armen [1][verdanken] Lula so viel“, sagt die 54-Jährige, die wie der
Ex-Präsident aus dem armen Nordosten stammt und sich eine Fahne der
Arbeiterpartei PT umgehangen hat. „Gott hat uns Lula geschickt.“ Für da
Silva und viele anderen Brasilianer*innen ist Lula mehr als ein Politiker.
Immer noch elektrisiert der bärtige 74-Jährige mit der Kratzstimme, der von
2003 bis 2010 Präsident von Brasilien war. Und wie kein anderer polarisiert
er das größte Land Lateinamerikas.
Im Inneren des Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft rennen Männer und
Frauen mit Smartphones und Ausweisen um den Hals aufgeregt durch die Flure.
Politiker*innen der PT und Aktivist*innen von sozialen Bewegungen schießen
Selfies, stämmige Metallarbeiter mit muskulösen, tätowierten Armen bewachen
alle Eingänge.
Die Straße vor dem Gebäude gleicht einem Meer aus roten T-Shirts und
Fahnen. Es wird gebrüllt, gesungen, getanzt. Juno Rodrigues beobachtet das
Spektakel aus einem Fenster des dritten Stocks. Der schmächtige 76-Jährige
mit dem roten Hemd und den verdunkelten Brillengläsern lernte Lula 1968 in
São Bernardo do Campo kennen. „Schon damals war er eine besondere
Persönlichkeit“ sagt Rodrigues. „Seine Freilassung ist ein großer Sieg f�…
uns.“
Als armer Landflüchtling aus dem Nordosten fing Lula als Jugendlicher an,
in der Metallindustrie im Großraum São Paulo zu arbeiten, wurde
Gewerkschaftsführer und gründete Anfang der 1980er Jahre die Arbeiterpartei
PT mit. In seinem vierten Anlauf wurde er 2002 zum Präsidenten gewählt.
## Der Prozess
Während seiner Amtszeit leitete Lula eine durch einen Rohstoffboom
begünstige Umverteilung ein. Millionen von Brasilianer*innen entflohen der
Armut, Schwarze konnte erstmals Universitäten besuchen, Hausangestellte
bekamen Rechte zugesprochen. Im Jahr 2011 stieg Lula mit einer rekordhaften
Zustimmungsrate von 87 Prozent aus dem Amt. Seine politische Ziehtochter
Dilma Rousseff folgte, die jedoch nach einem juristisch fragwürdigen
[2][Amtsenthebungsverfahren] abgesetzt wurde.
Im Jahr 2017 wurde Lula wegen passiver Korruption und Geldwäsche
verurteilt. Der Vorwurf: Lula soll einem Baukonzern Staatsaufträge als
Gegenleistung für eine Luxuswohnung verschafft haben. Das Urteil stützte
sich auf Indizien, Beweise konnte die Staatsanwaltschaft nicht
präsentieren.
2018 wurde Lula verhaftet. Tausende waren damals gekommen, um ihm am
Gebäude der Metallarbeitergewerkschaft in São Bernardo do Campo zu
verabschieden. Lula beteuerte stets seine Unschuld, der Prozess sei
politisch gewesen und er ein „politischer Gefangener“. Die Aktivist*innen
bezeichnen seine Haft gar als „Entführung.“ Bei seiner Rede am Samstag
erklärte er, dass er seine Unschuld beweisen werde.
„Die Haft von Lula ist ein Symbol dafür, wie der brasilianische Staat
bestimmte Gruppen kriminalisiert“, sagt Erica Malunguinho, die etwas
abseits umringt von Sicherheitsmännern steht. Malunguinho ist Politikerin
für die Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) und die erste Trans-Frau
im Stadtrat von São Paulo. „Linke, LGBT und Arme aus der Vorstadt sind die
ersten Opfer dieses Staates.“
## Urteile gegen Lula stehen auf wackligen Beinen
In der Tat gibt es erhebliche Zweifel an der Unabhängigkeit der Justiz.
Eigentlich wollte Lula im vergangenen Jahr bei der Wahl erneut antreten. In
allen Umfragen führte er mit großem Vorsprung. Durch die Verurteilung
durfte er jedoch nicht kandieren und so wurde der Weg für den
Rechtsradikalen [3][Jair Bolsonaro] bereitet. Zynische Pointe: Der für
Lulas Verurteilung zuständige Richter, Sérgio Moro, wurde kurz nach der
Wahl von Bolsonaro zum Justizminister ernannt. Ein perfekter Coup. Beinah
jedenfalls.
Im Juni [4][deckte] das Enthüllungsmedium [5][„The Intercept Brasil“] des
US-Journalisten Glenn Greenwald auf, dass Moro und die Staatsanwaltschaft
wahrscheinlich zusammenarbeiteten, um Lula hinter Gitter zu bringen und
seine Wahl zu verhindern. Die Urteile gegen Lula stehen auf immer
wackligeren Beinen. Der Oberste Gerichtshof will bald wegen Befangenheit
von Richter Moro abstimmen. Sollte es dafür eine Mehrheit geben, werden
alle Urteile gegen Lula aufgehoben – und er darf bei den nächsten Wahlen
antreten.
Dass Lula [6][seit Freitag] wieder ein freier Mann ist, verdankt er dem
Obersten Gerichtshof. Am Donnerstagabend hatte dieser eine Abstimmung
darüber abgeschlossen, ob erst nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel eine
Haftstrafe vollstreckt werden kann. 2016 hatte der STF entschieden, dass
eine Haft möglich ist, auch wenn noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft
sind. Dieses Urteil wurde nun gekippt.
Unumstritten ist die Entscheidung nicht. Viele Kriminelle, so
Kritiker*innen, würden nun freikommen. Diejenigen, die sich teure Anwälte
leisten können, würden durch Berufungsverfahren Haftstrafen verzögern. Ein
Rückfall in die alten Zeiten der Straflosigkeit?
## Nur ein Etappensieg der Linken
Die Rechte schäumte nach der Entscheidung. Im Netz forderten mehrere
Politiker den Obersten Gerichtshof zu schließen. Militärs drohten, die
Freilassung von Lula nicht zu akzeptieren. Von Putschstimmung war zu lesen.
In mehreren Städten gingen am Wochenende rechte Gruppen auf die Straße.
Präsident Bolsonaro, der im Wahlkampf verkündete, Lula im Gefängnis
„verrotten“ zu lassen, beschimpfte seinen Konkurrenten wüst auf
[7][Twitter].
Doch für den Rechtsradikalen könnte die Freilassung sogar von Nutzen sein.
Denn der gemeinsame Feind Lula könnte die Reihen der zerstrittenen Rechten
wieder schließen. In den letzten Wochen hatte es heftig geknallt zwischen
Regierung, seiner Partei und dem Militär. Viele ehemalige
Unterstützer*innen gingen auf Distanz zu Bolsonaro.
Für die kriselnde Linke ist Lulas Freilassung ein Grund zum Feiern. Mehr
als ein Etappensieg ist es allerdings nicht. Die überschwängliche
Begeisterung über Lulas Freilassung zeugt auch von der Schwäche der Linken.
Die Opposition gegen die Bolsonaro-Regierung ist schwach. Viele Linke haben
all ihre Kräfte in die Freilassung von Lula gesteckt. Die Devise: Wenn Lula
frei ist, wird alles besser.
Doch ob der Ex-Präsident wirklich den ersehnten Wandel herbeiführen kann,
ist fraglich. Nicht wenige kritisieren außerdem den Personenkult um Lula
und die Ausblendung von Fehltritten seiner Regierung. Doch einen Plan B
oder eine alternative Persönlichkeit hat Brasiliens Linke nicht
vorzuweisen.
Hinzu kommt: Lula ist nur vorübergehend frei, nämlich bis seine
Berufungsmöglichkeiten erschöpft sind. Es gibt weitere Anklagen gegen Lula
und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er wieder inhaftiert wird.
Und Lula selbst? Der gibt sich kämpferisch, kündigte an, Brasilien zu
bereisen und das Land wieder zu einen. Kurz vor seiner Freilassung postete
er ein durchaus skurriles [8][Video auf Twitter]. Dort war Lula schwitzend
und Gewichte stemmend beim Training in einem Fitnessstudio zu sehen,
unterlegt mit dem Lied „Eye of the Tiger“. Es war eine unmissverständliche
Ansage: Macht euch gefasst, ich bin zurück.
10 Nov 2019
## LINKS
[1] /Brasilien-am-Welternaehrungstag/!5030937
[2] /Absetzung-der-Praesidentin-in-Brasilien/!5330787
[3] /Nach-Bolsonaros-Wahlsieg-in-Brasilien/!5546318
[4] /Verurteilung-von-Brasiliens-Expraesidenten/!5601698
[5] https://theintercept.com/2019/06/09/brazil-car-wash-prosecutors-workers-par…
[6] /Brasiliens-Ex-Praesident-aus-Haft-entlassen/!5639859
[7] https://twitter.com/jairbolsonaro/status/1193317083720962048
[8] https://twitter.com/LulaOficial/status/1192888341584322562
## AUTOREN
Niklas Franzen
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