| # taz.de -- Über den Man-darf-nicht-mehr-Diskurs: Raus aus der Kollektivierung | |
| > Viele aktuelle Gesellschaftsdebatten werden im „Man darf ja nicht | |
| > mehr“-Modus verhandelt. Was macht das eigentlich mit den Sprechenden? | |
| Bild: Cheerleading sexistisch – ja, wo kommen wir denn da hin? | |
| Das man bringt Ohnmacht. Und doch scheint es der Modus zu sein, in dem | |
| viele Debatten unserer Zeit verhandelt werden: Was darf man noch sagen? Das | |
| Nicht-Dürfen impliziert Meinungseinschränkung. Als gäbe es eine Instanz, | |
| die verbietet bestimmte Dinge zu sagen, zu tun, zu denken. Wer „man darf | |
| nicht mehr“ sagt, macht sich selbst passiv, nimmt sich die Agenda. Und | |
| gerade deswegen ist dieser Rede-Modus gerade so virulent. | |
| Zuletzt war es etwa der Humor. Als Annegret Kramp-Karrenbauer [1][im Zuge | |
| eines Karnevalsauftritts] von Männern sprach, die nicht wüssten, welche | |
| Toilette sie zu nutzen hätten. Intersexualität als Objekt des | |
| Sich-lächerlich-Machens. Weiter ging es mit Dieter Nuhr, der es wohl für | |
| frech und bahnbrechend hielt, über eine junge Klimaaktivistin Witze zu | |
| machen. | |
| Das Klima ist auch so ein Thema, das zu diesem Rede-Modus einlädt: Durch | |
| Bewegungen wie [2][Fridays for Future] formulieren gerade junge Teile der | |
| Gesellschaft, neben politischen Forderungen, auch, durch welche privaten | |
| Einschränkungen ein Teil zum Schutz der Umwelt beigetragen werden könnte. | |
| Etwa durch Einschränkung des Fleischkonsums, der, gerade wenn er durch | |
| Massentierhaltung gefüttert wird, für einen großen Teil der CO2-Produktion | |
| verantwortlich ist. | |
| ## Überall Verbote | |
| Und dann geht es um Identitäten. LGBTIQ? Sternchen, die [3][Sexualitäten | |
| inkludieren], die Geschlechter sichtbar machen sollen? People of Color? | |
| Kein N-Wort mehr? Es wird darüber nachgedacht, ob Kinderbücher heute auf | |
| verletzende Sprache verzichten sollten – um zugänglicher zu sein für | |
| marginalisierte Menschen. Für viele Menschen erwächst aus diesen Debatten | |
| lediglich die Frage, was man heute eigentlich noch denken, sagen, tun | |
| dürfe. Verbote überall. Keine Handlungsmöglichkeiten. | |
| Eine Analyse des Man-darf-nicht-mehr-Diskurses führt wohl unweigerlich zu | |
| der Antwort, dass natürlich alles gesagt werden kann, was nicht | |
| verfassungsfeindlich ist. Geändert hat sich höchstens die Vielzahl der | |
| Menschen, die an diesen Diskursen teilnehmen möchten. Es ist nicht mehr nur | |
| die „Mitte der Gesellschaft“, es sind jetzt auch sogenannte Randgruppen. | |
| Es ist verstehbar, wenn Menschen sich intensiv mit ihrem liebsten | |
| Fußballclub auseinandersetzen. Wie oft der Club auf- und abgestiegen ist, | |
| welche Meisterschaften er gewonnen hat. Ebenso ruft der Umstand heute wohl | |
| kaum mehr als ein Schmunzeln hervor, dass es Menschen gibt, die die | |
| aktuelle Anzahl an Pokémon richtig benennen können und dazu ihre Stärken | |
| und Schwächen. Es sind übrigens 809. | |
| Gleichzeitig aber ist das Stöhnen vieler Menschen hörbar, die sich die | |
| vermeintlichen Identitätsproblemchen der Minderheiten nicht merken können. | |
| LGBTIQ, People of Color, Gendersternchen – überall dieser Druck, sich neue | |
| Sprechweisen merken zu müssen. Der „Genderwahn“, der die Freiheit der | |
| Sprache nehmen möchte. Doch wer sich 809 Pokémon merken möchte, kann sich | |
| auch merken, wofür LGBTIQ steht. Es sei denn, er oder sie will nicht. Dann | |
| jedoch müsste er oder sie zu seinem /ihren Willen stehen und könnte sich | |
| nicht mehr in die schützende Kollektivierung des Man flüchten. Die Person | |
| wäre aktiver Teil einer gesellschaftlichen Diskussion – das macht Angst. | |
| Interessant ist, dass sich auch große Teile der Medien dieses Diskurses | |
| bedienen. Auch hier heißt oft: Darf man noch? Filme von Kevin Spacey | |
| schauen etwa. Oder die [4][Bücher von Peter Handke lesen]. Und wie sieht es | |
| mit dem SUV-Fahren aus? Darf man das noch? Auch hier scheint der Modus der | |
| Diskursverweigerung zu greifen. Denn was bringt die Beantwortung der Frage, | |
| ob man etwas noch darf, wenn die Antwort darauf immer nur sein kann: | |
| Natürlich darf man noch. Wer könnte es denn verbieten? | |
| Es ist der Missbrauch des Worts dürfen – in Momenten, in denen es immer ums | |
| Wollen geht. Sobald, so scheint es, Menschen einen Diskurs mitbestimmen, | |
| die als „anders“ gesehen werden, geht es ums Dürfen. Genau dann sieht die | |
| Mitte der Gesellschaft sich eingeschränkt in ihrer Freiheit. Menschen | |
| wollen nicht, dass man Witze über sie macht, wollen nicht, dass ihre | |
| Zukunft verbaut wird, wollen nicht, dass sie mit falschem Pronomen | |
| angesprochen werden? Ja, was darf man denn noch? | |
| Je marginalisierter die fordernden Menschen, desto stärker scheint die | |
| Freiheit der Mehrheitsgesellschaft eingeschränkt. Die Bitte, nicht mehr | |
| eingeschränkt leben zu müssen – durch eine diskriminierende Sprache oder | |
| durch die Angst vor irreversiblen Klimaschäden –, lässt bei vielen den | |
| Verdacht entstehen, dass sie nun eingeschränkt sind. Dass die Grenzen ihrer | |
| Freiheit sich in Auflösung befinden. | |
| Das macht es einfacher, sich in die Passivität des Nicht-mehr-Dürfens zu | |
| flüchten. Wer nicht mehr darf, kann seinen Groll gegen die da weiter | |
| heranzüchten, muss nicht sich selbst hinterfragen, sondern nur die, die | |
| verbieten. Und Teile der Medien nehmen gemütlich Platz inmitten dieses | |
| lähmenden Diskurses. | |
| Ein erster Schritt aus diesem Modus kann sein, auf die Kollektivierung zu | |
| verzichten. Erst wenn aus „Man darf kein Fleisch mehr essen“ ein „Ich | |
| möchte weiterhin Fleisch essen“ wird, kann eine Diskussion entstehen. Erst | |
| dann kann nachgehakt werden: Wieso möchtest du das weiterhin? Und auch erst | |
| dann könnte das Gegenüber sagen: Das geht dich nichts an, das ist meine | |
| Privatangelegenheit. | |
| Wird aus dem Man ein Ich und aus dem Dürfen ein Wollen, wird der Diskurs | |
| individualisiert und damit verhandelbar. Das uninterfragbare Kollektiv zu | |
| verlassen, kann ein Weg aus der Ohnmacht sein, die Man macht. | |
| Wer sich aus der Kollektivierung begibt, kann erkennen, dass er oder sie | |
| tatsächlich noch Entscheidungs- und Meinungsfreiheit hat. Dass er oder sie | |
| alles sagen kann – jedoch mit Gegenstimmen rechnen muss. | |
| 16 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Matthias Kreienbrink | |
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