# taz.de -- Barocktage in der Staatsoper Berlin: Gott singt sehr hoch | |
> Romeo Castellucci inszenierte das Oratorium „Il primo omicido“ von | |
> Alessandro Scarlatti. René Jacobs dirigierte ein Gastorchester aus Gent. | |
Bild: Olivia Vermeulen (Abele), Kristina Hammarström (Caino) und Arttu Kataja … | |
Seit letztem Jahr stehen im Spätherbst so genannte „Barocktage“ auf den | |
Spielplan der Staatsoper. Die Gründe, die Matthias Schulz, der das Haus | |
seit 2018 leitet, bisher dafür vorgetragen hat, haben mit Kunst wenig zu | |
tun. Opern des Barock werden überall gespielt, natürlich auch an der | |
Staatsoper, wo schon seit Jahren in jeder Saison mindestens ein Stück aus | |
dieser Zeit neu produziert worden ist. | |
Schulz hat aus dieser Selbstverständlichkeit ein Instrument des Marketings | |
gemacht, das ein genau definiertes Zielpublikum im Blick hat. Die Musik des | |
17. und frühen 18. Jahrhunderts wird heute fast immer von Ensembles | |
gespielt, die sich mit Nachbauten historischer Instrumente darum bemühen, | |
die in historischen Dokumenten nachweisbaren Anweisungen für die damals | |
maßgebliche Aufführung musikalischer Werke in die Gegenwart zu übertragen. | |
Das Ergebnis hilft gelegentlich dem Verständnis alter Werke nach. Wirklich | |
erfolgreich hat sich jedoch vor allem der jederzeit wiedererkennbare | |
Klangreiz der Instrumente und der Stimmbildung durchgesetzt. Schneidend | |
scharfe Streicherattacken und Kontratenöre verkaufen sich auf Tonträgern | |
eben so gut wie in Livekonzerten. | |
Beim ersten Versuch mit dem neuen Format stand eine teure Lichtinstallation | |
von Ólafur Elíasson im Zentrum. Simon Rattle dirigierte dazu Rameaus | |
„Hippolyte et Aricie“, im Graben saß das Freiburger Barockorchester. Es | |
ging gründlich schief. So leicht lassen sich die streng abgegrenzten | |
Marktsegmente nun mal nicht verbinden. | |
## Herausfordernd hermetisches Kunstwerk | |
Am vergangenen Freitag jedoch war ein ganz anderer Geist zu spüren, der | |
deutlich über den mit Auslastungsraten von über 90 Prozent durchaus | |
messbaren Gewinn an Marktanteilen hinausgeht. René Jacobs, ständiger Gast | |
des Hauses und führender Kopf des historisierenden Musizierens, hat mit dem | |
Regisseur [1][Romeo Castellucci] ein herausfordernd hermetisches Kunstwerk | |
auf die Bühne gebracht. | |
Es scheint aus einem sehr fernen Raum herein zu schweben, entfaltet sich | |
langsam in ruhigen Bildern und dann löst es sich in die Transzendenz der | |
ewigen Hoffnung auf ein gutes Ende auf. Die Kassen füllen wird es wohl | |
kaum, denn es verlangt meditative Distanz auf Seiten der Zuhörenden. Wer | |
dazu nicht bereit ist, wird sich langweilen. | |
Es ist keine Oper. Die Musik schrieb [2][Alessandro Scarlatti,] der Vater | |
des viel bekannteren Domenico, der es mit mit seinen über hundert kurzen | |
Klaviersonaten bis heute in die Konzertsäle geschafft hat, wo die | |
Genialität seiner Miniaturen übrigens viel besser zu erkennen ist, wenn sie | |
auf modernen Konzertflügeln gespielt werden. | |
Sein Vater, 1660 in Palermo geboren, hat in den 65 Jahren seines Lebens | |
nach eigener Zählung 117 Opern verfasst, dazu etwa 700 Kantaten und etwa 30 | |
so genannte „Oratorien“, geistliche Stücke also, die in großer Besetzung, | |
aber ohne Bühnenhandlung aufgeführt wurden. Der größte Teil dieses | |
gewaltigen Lebenswerkes ist verloren. | |
## Eine Andachtsübung, die auf jeden Glanz verzichtet | |
Jacobs hat in der Bibliothek der Basler Musikhochschule eines dieser | |
Oratorien wiedergefunden. Unter dem Titel „Il primo omicido“ behandelt es | |
die Geschichte von Kain und Abel aus dem dem ersten Buch Mose des alten | |
Testaments. Scarlatti schrieb dafür eine sehr zurückhaltende, in einfachen | |
Harmonien und Melodien ruhende Musik.Sie ist eine in zwei Kapitel | |
aufgeteilte Andachtsübung, die auf jeden Glanz verzichtet, weil es nur | |
darum geht, die biblische Botschaft zu verstehen. | |
Gott selbst singt in der Stimmlage einer Frau, hier besetzt mit dem | |
Countertenor Benno Schachtner. Die ersten Menschen der Genesis, hier der | |
Tenor Thomas Walker als Adam, die Sopranistin Birgitte Christensen als Eva, | |
die Mezzosoprane Kristina Hammarström als Kain und Olivia Vermeulen als | |
Abel kommentieren die Botschaften ihres Schöpfers. Auch Luzifer tritt auf, | |
als Bassbariton mit Arttu Kataja besetzt. Er heizt Kains Wut über sein | |
verschmähtes Opfer bis zum Vollzug des Brudermordes an. | |
Es fällt heute ohnehin schwer, eine solche Predigt zu ertragen. Sie ist | |
ohne jede Dramatik in reizlose Musik gehüllt, deren raffinierter, | |
selbstbewusster Minimalismus sich beim ersten Hören keineswegs erschließt. | |
Und Romeo Castellucci macht alles noch schlimmer. Seine Bühne ist schwarz, | |
manchmal flackern schemenhafte Schleier und rot leuchtende Lichtbalken auf, | |
als sei Gott noch immer an der Arbeit, die Welt zu erschaffen. Adam und Eva | |
stehen in Alltagskleidern des 21. Jahrhunderts noch Christi Geburt staunend | |
davor, Kain und Abel hantieren mit lächerlich kleinen Feueröfchen. Von dem | |
einen steigt tatsächlich ein dünner Rauch auf. Pause. | |
Danach steht Luzifer im teuren Maßanzug auf einer Wiese zwischen schwarzen | |
Feldsteinen. Das Gras ist verdorrt. Die Klimakatastrophe hat das Endstadium | |
erreicht. Der schwarze Himmel zeigt Sternhäufchen, Kain erschlägt seinen | |
Bruder, danach bleibt die Bühne stumm. Jede Rolle wird jetzt nur noch von | |
einem Kind vertreten. Zusammen erobern sie die Spielfläche, rennen ohne | |
Choreographie herum und prügeln sich auch mal. | |
## Statt Theater nur Bilder | |
Theater spielen sie nicht, denn es gibt kein Theater. Es gibt nur Bilder. | |
Spielende Kinder, Farbflächen und am Ende eine schimmernd weiße Folie aus | |
Kunststoff, die den Boden lose bedeckt. Darunter scheinen die kommenden | |
Generationen des Menschen heran zu wachsen, aber so wörtlich ist das nicht | |
zu nehmen. Es geht allein um Scarlattis Werk. Die Sängerinnen und Sänger | |
müssen sich im Graben hinter das [3][„B'Rock Orchestra“] stellen, das | |
Jacobs aus Gent mitgebracht hat. | |
Es spielt keinen Rock, sondern in einem sehr maßvoll historisch gefärbtem | |
Stil. Aus dem Bruch der Schauplätze des Hörbaren und Sichtbaren entwickelt | |
sich eine enorme Spannung, in der Scarlattis musikalische Konzentration zum | |
Erlebnis wird. Gott muss sehr hoch singen, denn auf seiner Erde beklagt | |
Mutter Eva in schmerzvollen Halbtönen den Verlust ihrer Söhne. Ein anderer | |
Sohn wird uns alle erlösen, versprechen Scarlattis Arien. | |
Die Messe der Christen ist gelesen. Kein Wort davon muss man glauben, um zu | |
verstehen, was Religion ist: Eine absurde Hoffnung im leeren Raum, so | |
einfach wie Scarlatti und so abstrakt wie Castelluccis kongeniale Bilder, | |
die für sich stehen und gar nicht erst versuchen, eine Aktualität | |
vorzutäuschen, die es nicht gibt. Am nächsten Sonntag spielt die Berliner | |
Akademie für Alte Musik mit drei Sängerinnen und einem Sänger ein weiteres | |
Oratorium dieses Komponisten. | |
Es wird um die Schmerzen der Jungfrau Maria gehen, abschreckend genug, und | |
diesmal ohne Inszenierung auf der Bühne des großen Saales. Aber nach diesem | |
überzeugenden Auftakt dürfte es sich lohnen, noch einmal genau zuzuhören, | |
was Scarlatti zu sagen hatte, auch wenn es wieder nicht in unsere Zeit | |
passt. Dass solche verlorenen Schätze jetzt nur noch unter der Marke | |
„Barock“ zu haben sind, muss man halt als Dummheit der Gegenwart hinnehmen. | |
4 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Opernfestival-in-Aix-en-Provence/!5606048 | |
[2] https://www.welt.de/kultur/buehne-konzert/plus202649370/Musikalische-Entdec… | |
[3] https://andreasrichter.berlin/brock-ensemble-rene-jacobs/ | |
## AUTOREN | |
Niklaus Hablützel | |
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