# taz.de -- Resümee Jazzfest Berlin: An jeder Ecke Geschichtenerzähler | |
> Das Jazzfest Berlin hat mit der 2019er Ausgabe seinen betulichen Ruf | |
> endlich abgelegt, so etwa beim Konzert von São Paulo Underground. | |
Bild: US-Trompeter Ambrose Akinmusire am Samstag in Berlin | |
Mit einem wohligen Brummen hob es am Donnerstagabend an, den Samstagabend | |
beschloss es mit einem wohltuenden Knall: Das [1][diesjährige Jazzfest | |
Berlin] ist zum Entstehungszeitpunkt dieses Berichts noch nicht | |
abgeschlossen, aber es hat, wie bereits jetzt vermeldet werden kann, seinen | |
etwas betulichen Ruf abgelegt. | |
In der taz war zuvor an dieser Stelle zu erfahren, wie Musiker dereinst auf | |
der Bühne eingeschlafen seien und sich Festivalgründer gegenseitig vor den | |
Kadi schickten. Das Jazzfest als Schlaflabor und Kulisse für einen | |
Rosenkriegskulisse also, das gäbe eine famose Soap-Opera ab. Für heute aber | |
lässt sich ein anderes Lied singen: | |
Das wohlige Brummen generierte der bald 75-jährige Anthony Braxton auf dem | |
Eröffnungsabend im Martin-Gropius-Bau. Schon am Eingang wurde deutlich, | |
dass der Abend sich von einem gewöhnlichen Konzertabend unterscheiden wird. | |
Keine Bestuhlung, dafür im Vorderbereich des Lichthofs Platz für ein | |
Orchester und ein Dirigentenpult, an dem Braxton Platz nehmen sollte. | |
Der Musiker und Komponist, der sich Genre-Zuordnungen wie Jazz oder Neue | |
Musik aufs Schönste entzieht, brachte ein einziges Blatt Papier mit und | |
platzierte es mit der beschriebenen Seite nach unten auf seinem Pult. | |
„Sonic Genome“ heißt die ausladende Komposition, die Braxton da mit | |
Berliner MusikerInnen zur Aufführung brachte, ein Stück Raummusik im | |
wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Orchester stieg mit einer flächigen | |
Wall of Sound ein, aus der Braxton dann einzelne Akzente buchstäblich | |
herauszog – das Schrillen einer Posaune oder das Klöppeln eines Vibrafons. | |
## Geheimnisvolles Papier | |
Dann griff Braxton zu dem geheimnisvollen Papier, wendete es und zeigte es | |
den MusikerInnen. „220 p.I.“ war da zu lesen, und auf die Zauberformel hin | |
bildeten sich aus dem Orchester einzelne kleine Bands in verschiedensten | |
Besetzungen, um für die nächsten sechs Stunden durch das Gebäude zu ziehen. | |
Klanginseln bildeten sich, Jazz geriet zur Wegelagerei, zur Karawanserei, | |
wo an jeder Ecke ein Geschichtenerzähler wartet. | |
Komplett abgefahren klang die Gruppe, die sich irgendwann im Treppenhaus | |
versammelte und dabei unter anderem ihren Standbass als | |
Perkussionsintrument bespielte. An dieser Stelle ein notwendiger, ein | |
überfälliger Einwurf: Wird der Begriff sehr weit gefasst, geht vieles von | |
dem, was auf dem verlängerten Jazzfest-Wochenende gespielt wurde, als Free | |
Jazz durch. Aber was hat es mit dieser Freiheit auf sich? Sie hat zumindest | |
nichts zu tun mit Rücksichtslosigkeit oder Beliebigkeit. „Formen | |
zertrümmern, sich im Kollektiv zusammenschließen und die eigenen Aufnahmen | |
selbst verlegen – das ergibt noch keine Garantieformel des Widerständigen. | |
Alles lässt sich ausbeuten, das ist so banal wie erschütternd“, schreibt | |
Felix Klopotek im unbedingt lesenswerten Programmheft des Jazzfests. Und in | |
einem ebenda gedruckten Gespräch mit dem Philosophen Jacques Derrida | |
verwahrt sich Ornette Coleman, Namensgeber des Free Jazz, gegen die | |
Vorstellung, er spiele auf seinem Saxofon, was ihm gerade so durch den | |
Schädel fahre, ohne irgendeiner Regel zu folgen. | |
## Offengelegtes Inneres | |
Coleman sollte ein Teil des Samstagabends gehören. Vorher jedoch waren zwei | |
Deutschlandpremieren zu erleben: Die Pianistin Eve Risser spielte ein auf | |
ihrem Album „Après un Rêve“ basierendes Konzert, in dem sie das Soloklavi… | |
zum kleinen Kammerorchester werden ließ. Auch da war zum Beispiel ein | |
Vibrafon zu hören, oder zumindest Klänge, die ihm nahekamen. Risser | |
erzeugte sie im offengelegten Klavierinneren mit Drumsticks und kleinen | |
Paukenschlegeln. | |
Auf Rissers einnehmenden Minimalismus folgte Maximalismus: Der Trompeter | |
und Bandleader Ambrose Akinmusire präsentierte mit einer Band und einem | |
Streichquartett sein Album „Origami Harvest“. Dabei wollte sich eine | |
Stimmung ähnlich einem der schönsten Ornette-Coleman-Alben, „Friends and | |
Neighbors“, einstellen: Die Stimmung einer Community, in diesem Falle | |
versammelt um ein Amalgam aus Jazz, HipHop und Kammermusik. | |
Kompositionen Ornette Colemans kamen zum Zug mit der Bigband des Hessischen | |
Rundfunks plus dem Pianisten Joachim Kühn und dem Drummer Joey Baron, | |
einem, der Ende der Achtziger mit John Zorn den Punks Jazz beibrachte. Den | |
Samstag beschloss eine Performance (das Wort „Konzert“ wäre zu harmlos) um | |
die Formationen T(r)opic und São Paulo Underground, die wie in einem | |
Impro-Stonehenge einen Kreis bildeten, in dem die Tänzerinnen Pauline Simon | |
und Ana Rita Teodoro agierten. Hier wurde Jazz (auch das Wort ist zu | |
harmlos) zum Ritual. Umnachtet und dabei klarsichtig, die Blume Billie | |
Holidays im Haar. | |
4 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Beginn-des-Jazzfest-Berlin/!5637474 | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
## TAGS | |
Jazz | |
Musikgeschäft Berlin | |
Jazz | |
Jazz | |
Philharmonie | |
Jazzfest Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Jazzfest Berlin gestreamt: Ist Berlin doch eine Wolke? | |
Weil vielen das Feeling von Livekonzerten fehlt, hatte das Jazzfest Berlin | |
als Streamingevent ein großes Publikum. Der Rückblick. | |
Neues Album des Jazztrios Grünen: Aufgehobener Zeilensprung | |
Pianist Achim Kaufmann gehört zu den Größten seines Fachs. Über die | |
Konzertpause hinweg hilft das Album „Disenjambment“ seines Trios Grünen. | |
Herbie Hancock in Berlin: Guru mit Weltraum-Flöte | |
Einer der letzten Jazz-Götter, der US-Musiker Herbie Hancock, spielte in | |
der Philharmonie. Der Abend war zugleich Party und Labor für | |
Klangforschung. | |
Beginn des Jazzfest Berlin: Die Jazzpilze sprießen wieder | |
Am Donnerstag startet das Jazzfest Berlin. Im Fokus der Ausgabe 2019 steht | |
die Verknüpfung von Akteuren der freien Szene mit internationalen Stars. |