# taz.de -- Die Berliner Mauer als Kunstobjekt: Probeweise Mauerfall | |
> Ahnungen und künstlerische Vorboten einer wirklich großen Sache: Einige | |
> Merkwürdigkeiten vor dem Fall der Mauer vor dreißig Jahren. | |
Bild: Mauerfall: Allan Kaprows Happening „Sweet Wall“ 1970 nahe dem Potsdam… | |
Vorahnungen, Vorboten und Ankündigungen sind so alt wie die Menschheit | |
oder zumindest so alt wie die Bibel, denn dort immerhin kündigt Apostel | |
Johannes die Apokalypse mit ihren sieben Siegeln an. Wenn die sich öffnen | |
und ihre sieben Plagen über die Menschheit bringen, soll das der Anfang vom | |
Ende sein. Oder ebenfalls in der Bibel: „Mene mene tekel upharsin“ – so | |
steht es beim Gastmahl des babylonischen Königs Belsazar zu seinem | |
Schrecken plötzlich geisterhaft an der Wand geschrieben. Bedeutet „gezählt, | |
gewogen und geteilt“, und in dieser Nacht noch starb Belsazar. Das erste | |
Menetekel. | |
Ganz so schlimm ist es dann doch nicht gekommen, und geteilt wurde danach | |
auch nichts, sondern eher zusammengefügt, was angeblich zusammengehört. | |
Tatsache ist aber, dass sich bereits Monate vorher ankündigte, was im | |
Herbst 1989 tatsächlich Gestalt annahm: Am 9. November vor dreißig Jahren | |
war es dann wirklich so weit – die Mauer öffnete sich, großes Staunen, | |
großer Jubel. | |
Die Sache hatte Vorboten, nicht nur mit Montagsdemos und Gorbatschows | |
Besuch in Ostberlin, nein, anders, eigentlich subtiler und nur im | |
Nachhinein zu erkennen wie so oft, wenn Dinge wahr werden, für die die | |
Fantasie nicht ausreicht. Es gab im Vorfeld des „Mauerfalls“ nämlich | |
Ereignisse, und die hatten vor allem damit zu tun, dass die Mauer so | |
allmählich irgendwie ihren Schrecken einzubüßen begann. | |
Mit „irgendwie“ will ich darauf hinweisen, dass sie natürlich trotzdem bis | |
zum Schluss absolut tödlich war für die, die sie flüchtend überqueren | |
wollten. Das letzte „Maueropfer“, Winfried Freudenberg, starb am 8. März | |
1989. Zwar gelang ihm die Flucht mit einem Gasballon, der aber stürzte | |
Stunden später über Westberliner Gebiet in Zehlendorf mit tödlichen Folgen | |
für den Flüchtenden ab. | |
## Mancherorts mit Goldfarbe | |
Dennoch war der „antifaschistische Schutzwall“ (offizielle DDR-Bezeichnung) | |
für die Westberliner zuerst nach Willy Brandts Worten eine „Schandmauer“. | |
Sie verlor zumindest in ihrer letzten Phase etwas von ihrem Schrecken, denn | |
zunehmend wurde sie zu einem riesigen Graffiti, mancherorts sogar mit | |
Goldfarbe bemalt. Eine seltsame Transzendenz umgab die vergoldeten Stellen, | |
fehlte nur noch, dass „Mene mene“ und so weiter darauf erschienen wäre. | |
In Brand gesetzt hatte die Mauer der Feuerkünstler Kain Karawahn. Er kam | |
1984 nach Berlin, „um allein auf einer Insel zu leben“: „Jeder, der damals | |
nach Berlin kam, musste sich mit der Mauer auseinandersetzen. Für mich war | |
klar, sie muss brennen. Die brennende Mauer wurde für mich zum Symbol | |
meiner Freiheit, die Insel West-Berlin, wann immer ich wollte, aus eigener | |
Kraft verlassen zu können.“ An drei Stellen der Mauer – am Potsdamer Platz, | |
in der Stresemannstraße und am Landwehrkanal in Kreuzberg – entfachte Kain | |
Karawahn in den frühen Morgenstunden illegal das Feuer. Es war seine erste | |
große Feueraktion, sie machte ihn bekannt. | |
Viele KünstlerInnen befassten sich mit der Mauer, so etwa Wolf Vostell oder | |
Edward und Nancy Kienholz. Das Happening „Sweet Wall“ fand 1970 nahe dem | |
Potsdamer Platz statt und war ein Konzept des amerikanischen | |
Aktionskünstlers Allan Kaprow in Zusammenarbeit mit seinem Galeristen René | |
Block. Sie bauten 30 Meter Mauer nach und legten zwischen die Steine | |
Weißbrotscheiben, zum Schluss warfen sie ihre Mauer um. „Sweet Wall“ war | |
eine Parodie, ein absurder Kommentar zu einer absurden Situation – die | |
Westberliner Polizei jedenfalls verstand die Welt nicht mehr. | |
## Neutral in hellgrau | |
Ende der 1970er Jahre wurde die Mauer perfektioniert. Sie bestand nun aus | |
in Serie gefertigten Betonteilen und war hellgrau gestrichen. Dadurch | |
wirkte sie fast wie eine neutrale Fabrikmauer, aber nicht lange, denn bald | |
schon zierten Sprüche, Spott und politische Anmerkungen sie auf ihrer | |
Westseite. Graffiti und großflächige Bilder kamen hinzu: Die Franzosen | |
Thierry Noir und Christophe-Emmanuel Bouchet bemalten die Mauer, seit 1984 | |
immer mit den gleichen bunten Köpfen mit Glubschaugen und dicken Lippen. | |
Immer mehr Mal- und Sprayaktionen fanden statt, bis die Mauer Ende der | |
80er Jahre zum größten kollektiven Wandbild weltweit avancierte. Sie war | |
ein Ort, an dem künstlerische Freiheit herrschte, obwohl sie keineswegs mit | |
Freiheit assoziiert werden konnte. Das Bemalen galt eigentlich als | |
Sachbeschädigung. Der schmale Streifen vor der Mauer auf westlicher Seite | |
gehörte zur DDR, doch war er vor allem rechtsfreier Raum, denn keine | |
Ordnungshüter, weder von Ost noch West, betraten dieses Gebiet. | |
Im September 89 kam mein Freund Otto Wynen zu mir mit dem kuriosen, von ihm | |
durchaus ernst gemeinten Vorschlag, wir sollten an Erich Honecker | |
schreiben, um ihm eine Verwertung der Mauer in künftiger Zeit anzubieten. | |
Ein Angebot, das anscheinend – hier nun aber zu früh formuliert – in der | |
Luft lag, also eine Art Vorahnung der kommenden Kapitalisierung der Mauer | |
durch sogenannte Mauerspechte. | |
Und die Sache nahm sogar Fahrt auf: In dieser Zeit geschah es in | |
Marienfelde in Westberlin, dass ein unmittelbar an der Mauer wohnendes | |
Ehepaar Eltern wurde. Vor lauter Seligkeit betrank sich der glückliche | |
Vater mit seinem Bruder dermaßen, dass sie mit dem großen Räumfahrzeug, das | |
ihnen gehörte, in die Mauer bretterten und sie einrissen, doch ohne großen | |
Schaden oder Folgen, aber ebenfalls mit dem Charakter der Vorahnung | |
historischer Ereignisse wenig später. | |
## Oben auf der Mauerkrone | |
Gar nicht lange zuvor hatte sich ein vermeintlicher Professor aus Kanada | |
angesagt, der – nun zum dritten Mal – versuchen wollte, die Mauer von der | |
Westseite kletternd zu überwinden. Zweimal war er gescheitert, zweimal | |
bereits hatten ihn Grenzsoldaten oben von der Mauerkrone gepflückt, nun | |
kündigte er einen neuen Versuch an. In den Westzeitungen wurde diskutiert, | |
ob man ihn – anscheinend war er nicht ganz bei Verstand – im Vorfeld | |
stoppen müsste, um einen möglichen Unfall zu verhindern. | |
In dieser Zeit war es, dass der amerikanische Komponist und Pianist Jeffrey | |
Burns (1950–2004) mir von seiner „guten Idee“ erzählte, er wolle von der | |
Westseite – ihm als Ami würde schon nichts passieren – mit einem Hammer | |
kleine Stücke rausschlagen und verkaufen; das wäre eine feine Sache und | |
brächte Geld. Burns, der viele Jahre in Berlin lebte, war in seinem Metier | |
eine Koryphäe und ein Mensch von großem Humor, der musikalisch mit Frank | |
Zappa zusammenarbeitete und mit dem berühmten israelischen Komponisten | |
Josef Tal befreundet war. Zu seinen kuriosen Ideen gehörte eine | |
Zeitungsente, die er bei der B.Z. lancierte: Er habe spiritistischen | |
Kontakt zu Johann Sebastian Bach, der ihm komponieren helfe. Eine | |
Fotomontage zeigte die beiden in grauem Nebel. Burns setzte bei seiner | |
Mauerspechtvorahnung auf gute Kontakte zu dieser Zeitung, sie sollte mit | |
einem Artikel das Marketing besorgen. | |
Auch daraus wurde nichts, aber es war wieder so eine frühe Idee, dass etwas | |
möglich wäre, dass die Mauer nicht immer und ewig Bestand hätte, dass sie | |
noch zu etwas anderem gut sein könnte, als Berlin zu zerteilen, dass man | |
sie nicht nur fürchten müsste, sondern auch mit ihr spielen könnte. | |
„Es liegt was in der Luft“, so die Atmosphäre Monate vor dem realen | |
Untergang des immensen Bauwerks und eines Staats. Und in einigen Köpfen | |
bereits Vorahnungen, künstlerisch tastend, geschäftstüchtig. Das war keine | |
Spökenkiekerei, sondern lebendiges Fantasieren. Keine Verschwörungstheorie, | |
aber bereits der erste Moment für neue Möglichkeiten und Handlungsfelder. | |
Peter Funken, Jahrgang 1954, lebt seit 1983 als Kurator, Kunstjournalist, | |
Autor und Zeichner in Berlin | |
27 Oct 2019 | |
## AUTOREN | |
Peter Funken | |
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