# taz.de -- Wer ist ein guter Migrant?: Scheitern dürfen | |
> Ein AfD-Politiker hat Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind, | |
> als „Gesindel“ bezeichnet. Daran erinnert eine Aktion im Netz. Und nun? | |
Bild: Fleißig – nicht stumm und ergeben: Streikende bei den Ford-Werken 1973… | |
„Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ Kennen Sie diesen Satz? | |
1965 hat das Max Frisch gesagt; was er damit meinte, war: Deutschland hatte | |
mit der Türkei ein Anwerbeabkommen unterzeichnet, Hunderttausende Menschen | |
zogen mit ihren Familien nach Deutschland. Sie wurden als Arbeitskräfte | |
angeworben, die man schlechter als die „eigenen“ deutschen Arbeiter*innen | |
behandeln konnte. Als Menschen waren sie egal. | |
[1][Seit vergangenem Wochenende kursiert auf Twitter ein abgewandeltes | |
Zitat] zusammen mit einem Bild eines AfD-Abgeordneten: „Wir riefen | |
Gastarbeiter, bekamen aber Gesindel.“ Nicolaus Fest, AfD-Abgeordneter im | |
EU-Parlament, hat das 2017 geschrieben. | |
Und es gibt mehr solcher AfD-Zitate. In Farbgebung und Schrift erinnern die | |
Bilder an AfD-Plakate, nur das Partei-Logo fehlt. Darauf zu lesen sind | |
Aussagen von AfD-Politikern aus den letzten Jahren. [2][Die Aktion stammt | |
vom Twitteraccount „HoGeSatzbau“], einer satirischen Initiative, die seit | |
fünf Jahren aktiv im Netz gegen rechte Gruppierungen wie Pegida oder | |
„Hooligans gegen Salafisten“ vorgeht. Ziel sei es, so sagte es ein Sprecher | |
der HoGeSatzbau gegenüber dem Bayerischen Rundfunk, „Dinge, die die AfD | |
gesagt hat und von denen sie gerne hätte, dass sie vergessen werden, dass | |
diese Dinge in Erinnerung gerufen werden“. | |
Nun kann man diese Aktion lustig finden, man kann sie auch als wichtig | |
erachten. Wichtig, weil man niemals aufhören sollte, öffentlich zu machen, | |
welche abscheulichen und menschenfeindlichen Dinge AfD-Politiker*innen und | |
ihre Anhänger*innen von sich geben. Und wichtig auch deshalb, um in aller | |
Deutlichkeit klar zu machen, dass derartige Aussagen niemals Normalität | |
sein dürfen in diesem Land. Doch anstatt die AfD mit der Verbreitung ihres | |
Mülls zu enttarnen, passierte etwas anderes. | |
## Ein Paradebeispiel | |
Kinder und Enkel*innen von Gastarbeiter*innen sahen sich in den vergangenen | |
Tagen dazu genötigt, ihre Existenzberechtigung in diesem Land mit der | |
harten Arbeit ihrer Familienangehörigen zu begründen. | |
Auf Twitter schrieben Menschen Dinge wie: „Mein Opa Ali Dogan ist 1964 in | |
dieses Land gekommen, hat 30 Jahre lang in der Automobilindustrie in | |
Stuttgart geschuftet und dieses Land mit aufgebaut.“ Oder: „Mein Vater, | |
Ahmet Secgin, kam 1962 in die #BRD, schuftete 42 Jahre […] war nie | |
arbeitslos, ging 2004 mit 65 Jahren ehrenhaft in Rente, starb 2019 mit 80 | |
Jahren.“ | |
Was hier passiert, ist ein Paradebeispiel dafür, wie Migrationsdebatten in | |
Deutschland seit Jahrzehnten geführt werden. Irgendwer wertet Migrant*innen | |
ab, diese sehen sich gezwungen dagegen zuhalten und mit Erfolgsgeschichten | |
und Diplomen Beweise dafür zu liefern, dass sie und ihre Familien eben | |
nicht das faule „Gesindel“ sind, als das sie von Konservativen und Rechten | |
bezeichnet werden. | |
Was in diesen Debatten also im Zentrum steht, ist die Frage: Wem nützt | |
Migration? Antwort: der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft. Und wenn | |
sie nicht mehr nützt, wenn sie sich nicht auszahlt, dann weg mit euch, dann | |
seid ihr nichts mehr wert. Nur fleißige Migrant*innen sind gute | |
Migrant*innen – so das gängige Narrativ. | |
Es ist schmierig, wenn Menschen wie Nicolaus Fest Migrant*innen mit ihren | |
Aussagen in die Position bringen, sich rechtfertigen zu müssen. Denn | |
natürlich werden sie das tun, weil sie es leid sind, abgewertet und | |
beleidigt zu werden. Doch diese Rechtfertigung hat auch in sich selbst | |
etwas Problematisches. Denn mit ihr reproduziert man genau den Maßstab, den | |
Rechte ansetzen: Ein guter Migrant ist ein schweigender und arbeitender | |
Migrant. | |
Was in Migrationsdebatten deshalb ständig zu kurz kommt, sind Geschichten | |
des Scheiterns. Menschen sollen, ja sie müssen in ihrem Leben sogar | |
scheitern dürfen. In Deutschland zählt das aber nicht für alle Menschen | |
gleich, so war das schon immer. Ein Vorwurf, auch von vielen Betroffenen | |
selbst, lautet deswegen immer öfter: Ihr helft nicht, wenn ihr auf | |
Beschimpfungen mit „Gastarbeiter-Romantik“ antwortet. | |
Klar, Widerspruch ist wichtig. Geschichten, die bislang keinen Raum fanden, | |
müssen unaufhörlich erzählt werden. Was es aber künftig auch braucht, sind | |
Geschichten fernab der Romantik. Die neue Strategie muss lauten: Erzählt | |
Geschichten des Scheiterns, die nicht vom ersten VW Golf handeln. Brecht | |
das Narrativ der stummen Gastarbeiter*innen. Es braucht eine | |
Gegenerzählung, die sich nicht an rechten Vorstellungen abarbeitet. Eine | |
Gegenerzählung, die keine Reaktion ist, sondern Aktion. | |
23 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/social-media-kampagne-gegen-afd-was-… | |
[2] https://www.facebook.com/HoGeSatzbau/ | |
## AUTOREN | |
Erica Zingher | |
## TAGS | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
Gastarbeiter | |
Migration | |
Nicolaus Fest | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Alice Weidel | |
Minority Report | |
Alternative für Deutschland (AfD) | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nicolaus Fest wird Notvorsitzender: Berliner AfD rückt nach rechts | |
Der einstige Springer-Journalist Nicolaus Fest führt den Notvorstand der | |
AfD. Er ist bekannt für islamfeindliche und rassistische Thesen. | |
Nach AfD-Wahlergebnis in Thüringen: Die Angst wächst stetig | |
Nach jedem Wahlgewinn für die AfD stellt sich für bestimmte Menschen in | |
Deutschland die Frage: Wie sicher sind wir noch hier? | |
Mutmaßlicher Mord an Oury Jalloh: Weiterhin keine Anklage | |
Der Fall des toten Asylbewerbers Oury Jalloh bleibt bei den Akten. Das | |
Oberlandesgericht Naumburg hat eine Klageerzwingung abgelehnt. | |
AfD-Gruppe störte in KZ-Gedenkstätte: Geldstrafe rechtskräftig | |
Als im Juli 2018 AfD-Anhänger die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen besuchten, | |
verharmloste ein Gast die Nazi-Verbrechen. Er muss nun 4.000 Euro zahlen. | |
„Faschist“-Urteil zu AfDler Höcke: Stigmatisiert sie! | |
Ein Gericht hat entschieden, dass der Thüringer AfD-Chef Höcke „Faschist“ | |
genannt werden darf. Auch Wähler trifft dieses Label – und das ist gut so. | |
Debattieren mit Populisten: Deutschland, eine Streichmettwurst | |
Soll man mit Rechten reden? Macht man ja dauernd – nur meistens aneinander | |
vorbei. Und es reicht nicht, sie immer nur als „Rassisten“ zu bezeichnen. |