# taz.de -- Sozialpsychologe über Trinkgeld: Stimmt so! | |
> Wann gibt man welches und wie viel? Warum kriegt die Verkäuferin keines, | |
> aber die Kellnerin schon? Experte Michael Lynn verrät es. | |
Bild: 10, 15 oder gar 20 Prozent – wie viel Trinkgeld ist genug? | |
taz am wochenende: Herr Lynn, Sie sind Sozialpsychologe und Experte für | |
Trinkgeldforschung. Wie kamen Sie dazu? | |
Michael Lynn: Ich habe auf dem College gekellnert und als Barkeeper | |
gearbeitet, um meine Studiengebühren bezahlen zu können. Das hat | |
Trinkgelder für mich relevant gemacht. Mit der Zeit interessierte ich mich | |
für die Schnittstelle von Psychologie und Ökonomie, denn ich finde es | |
eigenartig, dass Menschen mehr für etwas zahlen, als sie müssen. Genau das | |
ist es aber, was wir tun, wenn wir Trinkgeld geben. | |
Wie kann man das erklären? | |
Wirtschaftswissenschaftliche Theorien gehen davon aus, dass Menschen | |
überwiegend rational handeln und Kund*innen deshalb aus Kalkül Trinkgeld | |
geben. Restaurantbesucher*innen zahlen also nur extra, weil sie sich | |
davon eine bessere Servicequalität in der Zukunft versprechen. Es scheint | |
logisch: Geben Gäste in einer Lokalität Trinkgeld, wenn Sie zufrieden | |
gewesen sind, lernen Kellner*innen mit der Zeit, dass sie belohnt werden, | |
wenn sie sich ins Zeug legen. So zumindest das Argument von Ökonom*innen. | |
Was halten Sie davon? | |
Meine Forschung liefert keinen Beweis für die Richtigkeit der Theorie. | |
Gäste geben selbst dann Trinkgeld, wenn sie wissen, dass sie das Restaurant | |
nie wieder besuchen werden. Manchmal erhalten Kellner*innen lausige | |
Trinkgelder, obwohl sie großartige Arbeit geleistet haben. | |
Wollen Gäste mit Trinkgeldern etwas Gutes tun? | |
Fakt ist, dass wir uns um andere Menschen sorgen und ihnen helfen wollen. | |
Jobs in der Gastronomie sind schlecht bezahlt, in den Vereinigten Staaten | |
erhalten Kellner*innen weniger als den Mindestlohn. Es gibt Leute, für die | |
Trinkgeld eine Form von aktivem Altruismus darstellt. Wir haben das | |
Bedürfnis, etwas zurückzugeben, wenn uns jemand einen Gefallen tut. Die | |
Aufmerksamkeit, mit der uns eine Bedienung umsorgt, erwidern wir mit | |
Trinkgeld. | |
Inwieweit regeln soziale Normen die Situation? | |
Ein Restaurantbesuch beruht auf einem sozialen Vertrag. Das ist eine | |
implizite Übereinkunft, mit der man in Situationen entsprechend sozialen | |
Erwartungen interagiert: Ich werde bedient, im Gegenzug gebe ich etwas | |
zurück. Es gibt allerdings weitere Motive als gegenseitiges Geben und | |
Nehmen. Manche wollen protzen, andere hoffen, dass die Kellner*in gut von | |
ihnen denkt. Im Grunde erkauft man sich Wertschätzung, sowohl von den | |
Servicekräften als auch von Gästen, die mitbekommen, wie hoch das Trinkgeld | |
ist. | |
Warum ist es üblich, Kellner*innen, Taxifahrer*innen und Friseur*innen | |
Trinkgeld zu geben, anderen gering bezahlten Berufsgruppen jedoch nicht? | |
Grundsätzlich vergüten wir Dienstleistungen extra, die mit einem niedrigen | |
sozialen Status assoziiert, schlecht bezahlt und für die keine besonderen | |
Fähigkeiten nötig sind. Trinkgeld erhalten also Kellner*innen und | |
Hotelangestellte, Ärzt*innen und Anwält*innen dagegen nicht. Tendenziell | |
sind „Tips“ dort normal, wo Geld auf direktem Wege ausgetauscht wird. Das | |
ist bequemer und eröffnet andererseits die Möglichkeit, das Rückgeld zu | |
kontrollieren. | |
Gibt es noch weitere Gründe? | |
Es ist für Kunden einfacher als für Vorgesetzte, die Qualität einer | |
Dienstleistung zu bewerten. Sie sind näher am Geschehen. Beispiel | |
Taxifahrer*innen: Der Chef sitzt nicht mit im Auto, er weiß nicht, ob | |
seine Angestellt*en einen guten Job machen – der Fahrgast schon. Deshalb | |
hat es Sinn, ein Stück der Verantwortung auf den Gast zu übertragen, der | |
seine Zufriedenheit mit einem Trinkgeld ausdrückt. | |
Wenn mein Abfluss verstopft ist und Handwerker*innen kommen, biete ich | |
ihnen für gewöhnlich einen Kaffee, aber kein Trinkgeld an. Wieso? | |
Weiß ich nicht. Interessant ist aber, dass das Wort für diese Art der | |
Bezahlung in einer Reihe von Sprachen „zum Trinken“ oder „Geld für | |
Getränke“ bedeutet … | |
… in Deutschland übrigens auch. | |
Jemandem einen Kaffee anzubieten, ist nicht so weit entfernt davon, einer | |
Person Geld für einen Kaffee zu geben. [1][Der Anthropologe George M. | |
Foster hat folgende Theorie entwickelt]: Kund*innen, die bedient werden, | |
geht es gut. Sie haben Spaß, vor allem an Orten, an denen man isst und | |
trinkt. Die Servicekräfte hingegen haben nicht wirklich Spaß, schließlich | |
arbeiten sie. Das kreiert ein Gefälle und Kellner*innen beneiden ihre | |
Kundschaft dafür. Foster wusste, dass Menschen es nicht mögen, beneidet zu | |
werden. Also sind Trinkgelder ihm zufolge eine Art, zu sagen: Hey, bitte | |
sei nicht neidisch. Hier ist ein bisschen Geld, damit du dir nach deiner | |
Schicht ein Getränk gönnen kannst. | |
Seit wann gibt es Trinkgeld? | |
Das ist nicht ganz klar. Einer der frühesten Hinweise, die mir bekannt | |
sind, stammt aus dem 16. Jahrhundert. Auch George Washington und Thomas | |
Jefferson, zwei der Gründerväter der USA, sollen ihren Sklav*innen | |
gelegentlich Trinkgeld gegeben haben. | |
Wie unterscheiden sich Trinkgeldkulturen? | |
Entscheidend sind da vor allem überindividuelle Wesenszüge einer | |
Gesellschaft. In Ländern, in denen die Bevölkerung besonders | |
extrovertiert und kontaktfreudig ist, geben Menschen häufiger und mehr | |
Trinkgeld. Bürger*innen eines Landes, in dem eher neurotische und | |
ängstliche Menschen leben, geben zwar seltener Trinkgeld, aber wenn, nicht | |
weniger. Und je brutaler eine Gesellschaft ist, desto weniger und seltener | |
wird Trinkgeld gegeben. | |
Geben Arme weniger oder mehr? | |
Das ist eindeutig: Sie geben weniger Trinkgeld als wohlhabende Menschen – | |
sowohl was die Häufigkeit als auch was die Höhe angeht. Es gibt die | |
Ansicht, dass sich ärmere Menschen eher in Kellner*innen hineinversetzen | |
können. Die Statusdifferenz ist nicht hoch. Wenn dem so wäre, müssten sie | |
großzügiger sein als reiche Leute, die auf Servicekräfte herabblicken. So | |
einfach ist es aber nicht. Was ich herausgefunden habe, ist, dass | |
Trinkgelder vor allem in Ländern mit großen Machtgefällen Usus sind. In | |
egalitären Gesellschaften, zum Beispiel in Skandinavien, sind Trinkgelder | |
weniger verbreitet. | |
Viele fühlen sich unwohl beim Trinkgeldgeben, gar beschämt. Wieso ist das | |
so? | |
Die deutschen Gepflogenheiten sind mir nicht geläufig, aber in den USA weiß | |
jeder und jede, dass man in Restaurants 15 bis 20 Prozent Trinkgeld gibt … | |
… in Deutschland etwa 10 Prozent. | |
Geht es nach sozialen Normen und Erwartungen, solltest du dich natürlich | |
schämen, wenn du sie nicht erfüllst. Allerdings gibt es Umstände, in denen | |
Normen nicht so stark wirken. Zum Beispiel am Schalter eines Cafés, auf dem | |
ein Trinkgeldglas steht. Ich zumindest sehe mich nicht verpflichtet, Geld | |
in das Gefäß zu werfen. Wenn ich nicht gerade Extrawünsche habe und nur | |
einen Kaffee und einen Donut bestelle, gebe ich kein Trinkgeld. Ich schäme | |
mich nicht, weil ich keinen Erwartungsdruck verspüre. | |
Es gibt Menschen, die sich auch in dieser Situation schämen. | |
Es kümmert sie, was die Bedienung von ihnen hält. Das ist menschlich, wir | |
sind soziale Kreaturen und sorgen uns darum, was andere von uns denken. | |
Manche mehr als andere. | |
In Italien und Frankreich ist es üblich, das Trinkgeld auf dem Tisch oder | |
diskret in einer Schatulle zu hinterlassen, nachdem man gegangen ist. Hilft | |
das gegen die Scham? | |
Es verringert sie auf jeden Fall. Im Prinzip sind Trinkgelder wie | |
Geschenke: Selbstverständlich freut mein Gegenüber sich, wenn ich ihn oder | |
sie beschenke. Doch zu entscheiden, was man spendiert, wenn ebendiese | |
Person über deine Schulter blickt, ist problematisch. Geld auf dem Tisch | |
zurückzulassen schafft Distanz. Bei elektronischen Bezahlweisen gibt es | |
auch Druck. Wenn Restaurantgäste mit Kredit- oder EC-Karte zahlen, bietet | |
das Gerät in den USA Trinkgeldoptionen an, beispielsweise 15, 20 oder 25 | |
Prozent. Man muss sich sofort entscheiden. Interessanterweise geben | |
Menschen unter solchen Umständen mehr Trinkgeld als in weniger angespannten | |
Situationen. | |
Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wies 1807 auf die Dialektik von | |
Herr und Knecht hin. Beiden ist in diesem Verhältnis Anerkennung versagt. | |
Spielt dieses Verhältnis auch beim Trinkgeldgeben eine Rolle? | |
Ja, es gibt Stimmen, die argumentieren, dass Kellner*innen durch | |
Trinkgelder in eine unterwürfige Position gebracht werden. Die | |
Servicekräfte sind nämlich von der Großzügigkeit ihrer Kundschaft abhängig. | |
Gäste wiederum sind Gebietende, die die Leistung des Personals bewerten und | |
dann entscheiden: Bezahle ich dich, oder lasse ich es sein? Das gibt ihnen | |
Macht und versetzt Kellner*innen in eine devote Position. | |
Aus diesen Gründen gab es um das 19. Jahrhundert herum Bewegungen, die | |
Trinkgelder abschaffen wollten, etwa die „Anti-Trinkgeld-Liga“ in Hamburg. | |
In der Tat gab es diese Bewegungen, auch in den Vereinigten Staaten. In | |
ihren Augen trugen Trinkgelder dazu bei, sklavische Abhängigkeiten zu | |
reproduzieren. Manchmal tendiere ich dazu, Trinkgelder abzuschaffen, dann | |
will ich sie wieder beibehalten. Insgesamt gibt es, zumindest in den USA, | |
mehr Menschen, die Trinkgelder gut finden, als solche, die sie ablehnen. | |
Trinkgeld erzeugt Druck, andererseits ist es eine Möglichkeit, jemandem | |
Geld zu geben, der oder die es wirklich braucht. | |
Hilft es, wenn das Personal das Trinkgeld untereinander aufteilt? | |
Als ich auf dem College gekellnert habe, bekam ich durch Tips mehr Geld, | |
als jede und jeder Arbeitgebende mir in Lohn hätte zahlen können. | |
Servicekräfte verdienen in New York meistens doppelt so viel wie | |
Köch*innen, sie werden durch Trinkgeld überbezahlt. Deshalb kann es | |
tatsächlich Abhilfe schaffen, das Trinkgeld unter allen aufzuteilen. | |
Ist ein besseres System vorstellbar? | |
In den USA nehmen Servicekräfte 15 bis 20 Prozent der Rechnung mit nach | |
Hause, wogegen die Profitmarge des Restaurantbetreibenden 8 bis 10 Prozent | |
beträgt. Das erzeugt Spannungen zwischen Kellner*innen, Küche und | |
Management. Gliedert man aber einen bestimmten Trinkgeldsatz in die | |
Rechnung ein, steigen die Preise. Gäste denken dann, das Restaurant sei | |
teurer als die Konkurrenz, obwohl die Preise im Endeffekt gar nicht höher | |
sind. In manchen europäischen Ländern hat man versucht, das Service-Extra | |
in den Preis zu integrieren. Nach und nach begannen die Leute aber doch | |
wieder, Trinkgelder on top zu geben. | |
17 Oct 2019 | |
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[1] https://www.jstor.org/stable/2740970?seq=1#page_scan_tab_contents | |
## AUTOREN | |
Simon Schwarz | |
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