| # taz.de -- Statusverlust des „Westens“: Abschied von der Dominanz | |
| > Über die Möglichkeit, auf eine andere Weise weiß zu sein. Oder: Warum wir | |
| > das Weißsein nicht den White Supremacists überlassen dürfen. | |
| Bild: Die Gesichter der Zukunft sind nicht mehr weiß und männlich | |
| Längere Zeit habe ich nach einem Begriff gesucht, um den großen | |
| historischen Umbruch zu benennen, die Turbulenzen, in denen wir gegenwärtig | |
| leben. Schließlich ist daraus der Titel meines jüngsten Buches geworden: | |
| Der lange Abschied von der weißen Dominanz. In den wenigen Worten liegt die | |
| Ahnung einer Utopie: Dass nämlich jene, die in den vergangenen 500 Jahren | |
| die Ordnung der Welt bestimmt haben, aus ihrer Position nicht allein | |
| vertrieben werden – was ohnehin geschieht. Sondern dass es ein verändertes | |
| Weißsein geben könnte und einen tätigen Abschied von der weißen Dominanz. | |
| „Dezentrierung“ nennen Psychologen die Ablösung von jenem | |
| Verankerungspunkt, den ein Mensch unbewusst für die Erdachse hält, obwohl | |
| es sich doch nur um den eigenen emotionalen und geistigen Ankerplatz | |
| handelt. Dezentrierung verunsichert, das gilt für die Angehörigen aller | |
| Kulturen, aber die Verunsicherung des weißen Blicks auf die Welt ist | |
| besonders erschütternd. Und darum besonders gefährlich. | |
| Rechtspopulismus und autoritäre Revolte in Europa lassen sich als große | |
| Verweigerung jeglicher Dezentrierung verstehen, als starrköpfiger Versuch, | |
| den eigenen Stammespfahl gerade jetzt besonders tief in einen Boden zu | |
| rammen, der dafür längst zu porös ist. Denn der Umbruch, den wir | |
| gegenwärtig mehr verspüren als verstehen, ist ja ein doppelter. Im Inneren, | |
| in der Einwanderungsgesellschaft, entscheiden die Alteingesessenen nicht | |
| mehr alleine, worüber das Land spricht; sie müssen [1][zurechtkommen mit | |
| einer neuen Elite migrantischer Provenienz] – und die wirkt wiederum wie | |
| ein Echo auf äußere, auf weltweite Machtverschiebungen. | |
| Nichts bleibt, wie es ist. Vom Niedergang des politischen Westens, derb | |
| illustriert durch die Gestalten Trump und Johnson, über den Aufstieg | |
| Chinas, die Rolle Afrikas als Jungbrunnen der Welt von morgen bis hin zur | |
| massiven [2][Infragestellung unserer Lebensweise] durch den Klimawandel – | |
| diese so unterschiedlichen Faktoren weisen sämtlich in die gleiche | |
| Richtung: Europäer und Euroamerikaner, die Altvorderen weißer | |
| Weltherrschaft, verlieren allseitig an Status. | |
| ## Wahnhafte Verteidigung des nicht mehr Verteidigbaren | |
| Und dies spüren natürlich auch die sozialen Underdogs in diesem System. | |
| [3][Toni Morrison schrieb] in einem ihrer letzten Essays, es sei „the | |
| horror of lost status“, der die Figur des sich aufbäumenden weißen Mannes | |
| in den Staaten besser kennzeichne als seine oft zitierte Wut. | |
| Wie die White Supremacists aller Länder auf diesen Umbruch reagieren, ist | |
| bekannt. Ihre hochaggressive und wahnhafte Verteidigung des nicht mehr | |
| Verteidigbaren [4][zielt tendenziell auf Faschismus]. Bisher stellen sich | |
| ihnen vor allem jene entgegen, die als Nichtweiße, als People of Color, als | |
| religiöse oder ethnische Minderheiten am meisten zu befürchten haben. Das | |
| ist beschämend, und es ist zu wenig. | |
| Für die Bekämpfung des neuen weißen Faschismus müssen sich vor allem all | |
| jene verantwortlich fühlen, die ebenfalls mit einer historisch | |
| privilegierten Hautfarbe aufgewachsen sind. Um es platt zu sagen: Wir | |
| dürfen das Weißsein nicht den White Supremacists überlassen. Wir können uns | |
| da nicht wegstehlen. Und wir müssen vom Weißsein sprechen, um es irgendwann | |
| überwinden zu können. | |
| Deshalb also wünsche ich mir ein tätiges Abschiednehmen von der Dominanz. | |
| Nicht dass wir bereits wüssten, wie das geht. Es handelt sich um einen | |
| Vorgang, der über alles konventionell Politische weit hinausgeht. Es | |
| handelt sich um nichts weniger als die Suche nach Koordinaten, wie wir uns | |
| geistig und seelisch neu verorten können. Diese altmodische Wendung benutze | |
| ich bewusst, um sie dem forschen „Sich-Positionieren“ entgegenzusetzen, wie | |
| es heute en vogue ist. Für das eigene Selbstverständnis einen neuen Ort in | |
| einer neuen Welt zu finden, das ist ein tastender Prozess. Tun wir nicht | |
| so, als würden wir ihn bereits kennen, diesen Ort. | |
| ## Eine leicht ranzig gewordene Selbstgefälligkeit | |
| Das Instrumentarium der europäischen Sozial- und Kulturwissenschaften | |
| machte die Geschichte Europas zum Modell universaler Entwicklung: Mit | |
| vermeintlich neutralen Begriffen wie Nation, Revolution oder Fortschritt | |
| beanspruchten europäische Erfahrungen Weltgeltung und zwangen die | |
| historischen Verläufe andernorts in ihr Deutungsmuster. Wir waren die | |
| Zentralperspektive. Was tritt an deren Stelle? | |
| Wenn wir uns tatsächlich berühren lassen von den großen Veränderungen im | |
| Angesicht der Welt und der Menschheit, dann senkt sich Zweifel in alles | |
| Sprechen. Worte haben ihre Tauglichkeit verloren, Begriffe gleiten uns wie | |
| leere Hüllen aus der Hand. Was muss neu definiert werden? Was in Gänze | |
| verworfen? Unsere Vorstellungen etwa von „Geschichte“ und „Entwicklung“ | |
| sind ideologische Vereinbarungen, die im hiesigen Teil der Welt in | |
| massenhafter Komplizität für gültig erachtet wurden. Es handelt sich um das | |
| unausgesprochen Gemeinsame, um das gefühlte Wo-Sein in der Welt. | |
| Die alten Ideologiefabriken rattern weiter vor sich hin, weil sie nicht | |
| anders können, doch ihr Produkt wird jeden Tag fahler. Was bleibt, ist ein | |
| vages Selbstbild, eine leicht ranzig gewordene Selbstgefälligkeit, die | |
| nicht davon lassen will, dass Freiheit und Menschenrecht, Kunst, | |
| Intellektualität und Geschmack bei uns ihre Heimstatt haben. | |
| Die globale Macht des westlichen Narrativs ist zwar gebrochen, aber wir | |
| wissen noch nicht, wie eine multipolare Welt anders von sich erzählen kann. | |
| Wie können polyzentrische Erzählungen einander verstehen? Es wird jetzt | |
| wieder vermehrt vom globalen Norden und globalen Süden gesprochen; doch das | |
| Künftige liegt, noch nicht sichtbar, hinter diesen Groß-Vokabeln. | |
| Um die Erzählungen der anderen zu verstehen, sind wir Bewohner der | |
| Ex-Hegemonial-Sphäre vermutlich am schlechtesten gerüstet. So wie Menschen, | |
| die stets in einem Überfluss an elektrischer Beleuchtung lebten, die Ersten | |
| sind, die im Dämmerlicht nichts mehr erkennen können. | |
| 9 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Alice-Hasters-ueber-Diskriminierung/!5629137 | |
| [2] /Oekobilanz-und-Einkommen/!5624373 | |
| [3] https://www.newyorker.com/magazine/2016/11/21/making-america-white-again | |
| [4] /Madeleine-Albright-legt-Buch-vor/!5520207 | |
| ## AUTOREN | |
| Charlotte Wiedemann | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Eurozentrismus | |
| Rechtspopulisten | |
| Schlagloch | |
| People of Color | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Theater | |
| Kolumne Habibitus | |
| Critical Whiteness | |
| Greta Thunberg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vanessa Nakate und das Foto der AP: Davos, eurozentriert | |
| Die Nachrichtenagentur AP hat Klimaaktivistin Vanessa Nakate aus einem Bild | |
| geschnitten. Der Fall zeigt die Macht von Fotojournalismus. | |
| Theaterregisseurin Anta Helena Recke: Bloß weg mit den Kategorien | |
| Den Begriff „Sozialkritik“ findet sie verstaubt, Diversität hingegen | |
| maßgeblich: Anta Helena Recke gilt als eine der spannendsten | |
| Regisseur*innen. | |
| Hass auf Klimaaktivistin Thunberg: Antira-Aktivist_innen gegen Greta | |
| Greta Thunberg bekommt mehr mediale Aufmerksamkeit als junge BIPoc, die das | |
| gleichen sagen. Doch das ist nicht die Schuld des 16-jährigen Mädchen. | |
| Alice Hasters über Diskriminierung: „Ich hatte Fluchtgedanken“ | |
| Alice Hasters will nicht alles immer wieder erklären. Was Rassismus | |
| anrichtet, beschreibt sie in ihrem Buch, das sich an weiße Menschen | |
| richtet. | |
| Klimaschutz-Bewegung in USA: Make America Greta again | |
| Die USA sind das Land mit der höchsten Konzentration an Klimaleugnern. Doch | |
| dank New Yorker Teenagerinnen wächst die Fridays-for-Future-Bewegung. |