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# taz.de -- Deniz Yücels Buch über seine Haft: Der Agentterrorist erzählt
> Der frühere taz-Redakteur hat ein großes Buch über sein Jahr im
> türkischen Gefängnis geschrieben. Es ist auch die Geschichte einer tiefen
> Liebe.
Bild: Deniz Yücel nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis am 16.2.2018 in I…
Lange hat es gedauert, jetzt liegt es auf dem Tisch. [1][Deniz Yücels
Abrechnung mit Erdoğans Türkei] und seinen Erfahrungen im türkischen
Gefängnis erscheint in diesen Tagen. Sie dürfte auf großes Interesse
stoßen, auch wenn das Land am Bosporus nicht mehr so im Fokus der
öffentlichen Wahrnehmung steht wie noch vor einem Jahr.
Um es gleich vorweg zu sagen: Der frühere taz-Redakteur, dann
Welt-Korrespondent und ehemals prominenteste politische Gefangene aus
Deutschland hat mit „Agentterrorist“ ein berührendes Buch geschrieben.
Anders als es die Unterzeile des Titels „Eine Geschichte über Freiheit und
Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie“ suggeriert, ist es keine
Schrift, die im bekannten flapsig-ironischen Deniz-Yücel-Sound daherkommt.
Auch wenn sich einige Stellen finden, die diesen Eindruck erwecken – so
etwa die Überschrift des Kapitels, in dem es um Yücels Aufenthalt in der
Sommerresidenz des deutschen Botschafters im Istanbuler Vorort Tarabya geht
(„Bei Tayyip um die Hecke“) –, hat das Buch insgesamt doch eine andere
Tonlage.
## Präzises Tagebuch
Es ist vor allem um präzise Sachlichkeit bemüht. Bis auf den
Quadratzentimer genau wird die Größe der Zelle beschrieben. Wir erfahren
genau, wie es in Silivri, dem größten Knast für politische Häftlinge in der
Türkei, aussieht. Und wir nehmen Teil an den Gesprächen, die der Häftling
Deniz Yücel trotz Isolationshaft mit seinen Zellennachbarn irgendwie führen
konnte.
Die Schrift ist über weite Strecken ein Gefängnistagebuch. Aber genauso ein
Buch über die Türkei unter dem Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan,
vor allem in der paranoiden Atmosphäre nach dem misslungenen Putschversuch
gegen Erdoğan im Juli 2016 und dem sich daran anschließenden
Ausnahmezustand.
Einmal erfährt man, wie der äußere Gefängnisalltag abläuft. Gleichzeitig
aber schreibt Deniz Yücel darüber, was dieser Gefängnisaufenthalt mit ihm
als Person macht. Wie die anfängliche Erwartung, nach der polizeilichen
Festnahme bald wieder auf freiem Fuß zu sein, in die Angst vor einem
unabsehbar langen Knastaufenthalt umschlägt, als der Haftrichter in
Istanbuls berüchtigtem Justizpalast in Çağlayan tatsächlich auf
Untersuchungshaft besteht, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben,
diese rein politische Entscheidung noch juristisch zu verbrämen.
Deniz Yücel hat sich an Gefängnisbüchern anderer türkischer Intellektueller
orientiert, die vor ihm die „Schule der Nation“ absolviert haben, allen
voran bei dem größten türkischen Dichter des 20. Jahrhunderts, Nazim
Hikmet. Denn der Knastaufenthalt von Deniz Yücel, so sehr er in
Deutschland die Öffentlichkeit bewegt hat, ist in der Türkei ja keine
singuläre Erfahrung, sondern für Journalisten, Schriftsteller, Denker und
Dichter eher die Regel als die Ausnahme. „Wer bei uns nicht im Knast war,
muss wohl was falsch gemacht haben“ ist ein geflügeltes Wort unter
türkischen Intellektuellen, nicht erst seit Recep Tayyip Erdoğan sein
drakonisches Regime errichtet hat.
## Gefängnis- und Liebesgeschichte
Doch die Ausmaße der Repression und die Masse der Journalisten und
Regimekritiker, die in den Jahren seit der Niederschlagung des
Gezi-Aufstandes im Herbst 2013 und dann noch mal verstärkt nach dem
Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei in die Gefängnisse geworfen
wurden, ist nur noch vergleichbar mit der Phase nach dem Militärputsch
1980.
Deniz Yücel nimmt deshalb auch immer wieder Bezug auf die anderen
Journalisten, die außer ihm alle auch im Knast sitzen, viele von ihnen
gleichzeitig in Silivri, von denen er einigen auch hin und wieder beim Gang
zum Arzt oder bei anderen Gelegenheiten, zu denen er seine Zelle verlassen
kann, begegnet.
Er weiß, dass er gegenüber den meisten anderen Häftlingen privilegiert ist,
weil sein Fall zu einer so gewaltigen Solidaritätsbewegung in Deutschland
geführt hat, dass die Bundesregierung und durch deren Druck dann auch die
türkische Regierung das nicht auf Dauer ignorieren können. Deniz bekommt
diese Dynamik in Deutschland natürlich nur indirekt und zeitversetzt mit,
doch er schreibt immer wieder, wie sehr diese Kampagne ihn aufgerichtet hat
und ihm Hoffnung gegeben hat, auch wenn sich manchmal die schlechten
Nachrichten häuften und die Haftdauer schier unendlich schien.
Das Buch ist aber nicht nur eine Geschichte über Haft, Folter und
Repression, nicht nur eine Geschichte über politische Auseinandersetzungen
zwischen Demokraten und Autokraten, es ist zugleich eine Liebesgeschichte.
Mit großer Offenheit erzählt Deniz Yücel über seine Liebe zu seiner
heutigen Frau Dilek, die er gar nicht so lange vor seiner Verhaftung erst
kennengelernt hatte, die durch seinen Knastaufenthalt zunächst auf eine
harte Probe gestellt wurde, dann aber mit einer Heirat im Gefängnis immer
mehr zur entscheidenden Stütze für ihn wurde.
## Kleine Kompromisse
Allerdings auch mit einem enormen Konfliktpotenzial, das Deniz immer wieder
genau beschreibt. Denn sein Credo ist „Ich werde mich nicht brechen lassen“
und „Ich werde mir nicht den Mund verbieten lassen“. Wo Deniz auf
Konfrontation setzt, plädiert Dilek häufig eher für Zurückhaltung. Und wenn
Deniz, manchmal in allzu deutlicher Pose des Kämpfers, meint, selbst wenn
er deshalb länger sitzen muss, werde er sich doch den Mund nicht verbieten
lassen, geht es Dilek in erster Linie darum, dass er endlich rauskommt,
auch wenn das vielleicht einen kleinen Kompromiss miteinschließt.
Es kommt zu herzzerreißenden Szenen zwischen den beiden, immer noch
zusätzlich erschwert dadurch, dass eine direkte Kommunikation kaum möglich
ist und bei Besuchen im Gefängnis entweder eine Trennscheibe das Paar eben
trennt oder aber ein Aufseher so penetrant heranrückt, dass ein wirklich
intimes Gespräch auch wieder nicht möglich ist.
Deniz Yücel reflektiert diesen Konflikt ausführlich, was das Buch eben auch
sehr anrührend macht und es weit über ein reines Gefängnistagebuch hinaus
auszeichnet. Er weiß, dass er manchmal auf Kosten seiner großen Liebe
handelt, aber er glaubt nicht anders aufrechten Ganges wieder aus dem Knast
herausgehen zu können.
## Dank Angela Merkel
Obwohl er zeitweilig nach außen hin den Eindruck erweckt, die
Bundesregierung würde ihn zu einem Objekt eines Tauschhandels machen, und
er sein Credo dagegensetzt: „Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur
Verfügung“, berichtet er im Buch darüber, wie dankbar er letztlich doch
Kanzlerin Angela Merkel und dem damaligen Außenminister Sigmar Gabriel ist,
dass sie sich beide intensiv für seine Freilassung eingesetzt haben.
Er sieht in Gabriels Drohung an Erdoğan, Hermes-Kredite für deutsche
Unternehmen in der Türkei zu begrenzen und so die Investitionen aus
Deutschland in der Türkei herunterzufahren, oder massive Warnhinweise für
Türkeireisende auszusprechen und nicht zuletzt die Ausweitung der Zollunion
zwischen Türkei und EU zu blockieren, wenn die Erdoğan-Regierung ihre
Haltung nicht ändert, als entscheidenden Wendepunkt in den
deutsch-türkischen Beziehungen und auch seiner Knastgeschichte an.
[2][Deniz Yücel ist im letzten Jahr im Februar nach einjähriger Haft aus
dem Gefängnis entlassen worden]. War das nun auch ein Signal, dass sich die
Repressionspolitik der Erdoğan-Regierung insgesamt geändert hatte? Im
Februar 2018 war das ganz sicher noch nicht der Fall. Wie Deniz Yücel
selbst schreibt, wurden noch am selben Tag seiner Entlassung andere, in der
Türkei sehr berühmte Journalisten, zu lebenslanger Haft verurteilt.
Bekannte Menschenrechtler, Friedensaktivisten und Teilnehmer an den
Gezi-Protesten sitzen immer noch in Haft, teilweise seit knapp zwei Jahren,
und das Regime zeigt keinerlei Anzeichen, diesen Leuten Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen.
Es hat allerdings ein anderes, überaus wichtiges Signal in der türkischen
Politik gegeben. Gut ein Jahr nach der Haftentlassung von Deniz Yücel, im
März 2019, hat Erdoğan bei landesweiten Kommunalwahlen seine ersten
massiven Niederlagen an den Wahlurnen erlitten. Dass er nach einer
erzwungenen Wahlwiederholung im Juni 2019 auch noch Istanbul, die
wichtigste Stadt des Landes, krachend an die Opposition verlor, bestätigt,
dass der Herbst des Patriarchen begonnen hat.
Und die deutsch-türkischen Beziehungen? Vor wenigen Tagen hat VW bekannt
gegeben, dass der Konzern zur Freude Erdoğans ein großes Autowerk in der
Türkei bauen wird. Kritische Reaktionen in der bundesdeutschen Politik
sucht man vergebens, im Gegenteil. Anfragen des Autors dieses Artikels bei
diversen Politikern blieben unbeantwortet. Mit Kritik an einer deutschen
Großinvestition in der Türkei macht man sich heute in Deutschland offenbar
schon wieder unpopulär. Den Präsidenten am Bosporus wird das freuen.
8 Oct 2019
## LINKS
[1] /Deniz-Yuecels-Buchpremiere/!5632177
[2] /Deniz-Yuecel-ist-frei/!5485240
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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