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# taz.de -- Sieben Thesen zur Klimabewegung: Kampf gegen die Hydra
> Der bislang größte Erfolg einer sozialen Bewegung in Deutschland war der
> Atomausstieg. Eine Blaupause für das „Wie weiter?“ nach dem Klimastreik?
Bild: „Entscheidend ist auf der Straße“: PolitikerInnen handeln nur, wenn …
Berlin taz | Im März '79 gingen 100.000 Menschen gegen den Bau einer
Kernenergieanlage in der bis dahin unbekannten Gemeinde Gorleben auf die
Straße, es war die bis dahin [1][größte Demonstration der noch jungen
Anti-Atom-Bewegung]. 32 Jahre später, im Juni 2011, wurde der Atomausstieg
besiegelt, es war der größte Erfolg einer sozialen Bewegung in der
Bundesrepublik. Aber der Ausstieg war – von heute aus betrachtet –
kinderleicht. Ein paar Atomkraftwerke ausschalten, na und?
Die Klimabewegung hat weniger Zeit – und die Aufgabe ist ungleich größer:
Diesmal geht es nicht nur darum, ein paar Energiekonzerne zu zwingen, ihr
Geld anders zu verdienen. Es geht darum, alles zu verändern: was wir essen,
wie wir uns bewegen, wie wir leben wollen.
Verglichen mit dem Atomausstieg ist die globale Erwärmung eine Hydra mit
sieben Köpfen, die CO2 speien: Es reicht nicht, nur das Fliegen zu
bekämpfen. Wer das tut, den tötet die Hydra mit einem anderen Kopf. Der
Kampf muss auf allen Feldern zugleich passieren: Mobilität, Ernährung,
Energie. Selten ist eine Bewegung so schnell so groß geworden und hatte
sofort Einfluss auf parlamentarische Politik. Darauf können die
SchülerInnen stolz sein, unabhängig davon, was das Kabinett vorlegen wird.
Wenn am Freitag alle nach Hause gehen, haben sie voraussichtlich an der
größten klimapolitischen Demonstration teilgenommen, die es bisher gab. Und
wenn sie am Samstag aufstehen, werden Motoren aufjaulen und Bagger graben.
Die globale Erwärmung geht weiter. Schafft die Bewegung es, dauerhaft so
viele Menschen zu mobilisieren? Der Blick auf die Anti-Atomkraft-Bewegung
kann dabei helfen. Sieben Thesen zur Klimabewegung.
## These 1: Angst allein reicht nicht
Die offensichtliche Parallele zuerst: Angst ist ein Mobilisierungsfaktor.
Damals wie heute fragten sich Menschen, ob sie noch Kinder in diese Welt
setzen dürfen (Sie durften, wie man sieht). Lange hatte die Klimabewegung
das Problem, dass die Erderwärmung eine abstrakte Gefahr blieb. Die
nukleare Bedrohung war konkreter: Eine falsche Entscheidung in einem
Atomkraftwerk, ein Druck auf einen roten Knopf genügte.
In WGs in den siebziger Jahren hing ein Plakat mit den Köpfen von Marx,
Engels und Lenin. „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“ Heute würde man
schreiben: „Wir auch.“ Nach zwei Hitzesommern ist aus der abstrakten Gefahr
eine konkrete geworden. Auch die Anti-Atom-Bewegung hatte ihre größten
Mobilisierungen nach Zwischenfällen in Atomkraftwerken. Aber der
Unterschied ist: Die Erderwärmung geht auch ohne Zwischenfälle weiter, auch
im Winter. Um erfolgreich zu sein, muss aus abstrakter Angst konkretes
Handeln werden.
## These 2: Die Stärke von Fridays for Future ist ihre Offenheit
Bisher haben sich FFF gegen konkrete Ziele entschieden und mit dieser
Strategie der maximalen Offenheit Erfolg gehabt. Man ließ sich von Springer
einladen und setzte sich mit den Energieriesen auf Podien, blieb
freundlich, aber bestimmt.
Mit dieser Offenheit haben FFF es geschafft, Menschen anzusprechen, die
sonst zuhause blieben. Andere Klima-Bewegungen wie Ende Gelände waren zwar
vergleichsweise erfolgreich. Aber die Hürden mitzumachen sind hoch, vor
allem beteiligen sich junge Aktivisten.
## These 3: Die Schwäche von Fridays for Future ist ihre Offenheit
Doch mit dem Klimastreik könnte sich diese Strategie abnutzen. Der
freundlichen Aufforderung, doch bitte auszustempeln, werden viele
Erwachsene nachkommen. Aber wirklich gestreikt, also während der
Arbeitszeit demonstriert, wird kaum.
Weitere Demonstrationen werden sich an diesem 20. September messen lassen
müssen, das verlangt die Medienlogik. Es wird schwer, die Aufmerksamkeit so
hoch zu halten. Bei Fridays for Future gibt es einige, die jetzt über
Zivilen Ungehorsam sprechen. Andere wollen, dass ihre Marke sauber bleibt.
Muss die Bewegung radikaler werden?
## These 4: Teilen, ohne sich zu spalten.
Bewegungen haben sich immer wieder an dieser Frage gespalten, zuletzt etwa
die globalisierungskritische beim G20-Gipfel in Hamburg. Die
Anti-Atom-Bewegung hat das meist besser gemacht. Sie hatte unterschiedliche
Angebote: Latschdemos für die einen, Sitzblockaden von X-Tausend-Mal-Quer
für die anderen, und dann noch Castor schottern als radikalere Aktion oder
autonome Kleingruppen, die sich an Gleise ketteten. Wichtig war, dass die
verschiedenen Akteure auch während der Debatten um Militanz solidarisch
blieben.
Auch die Klimabewegung beginnt sich zu differenzieren: Für den Einstieg
gibt es Fridays for Future, die Dachmarke, für Existenzialisten Extinction
Rebellion, für Freunde des Zivilen Ungehorsams Ende Gelände. Und als neues
Startup: Sand im Getriebe gegen die Autoindustrie.
Interessant ist, dass sich die vielen Töchter der Klimabewegung bisher
gegenseitig befruchten, nicht schwächen. Die Offenheit der SchülerInnen hat
auch radikalere AktivistInnen offener gemacht, etwa im Umgang mit Medien.
Am vergangenen Wochenende konnte man beobachten, dass die Bewegungen sich
auch ästhetisch inspirieren. Den weißen Maleranzug trug man schon in der
Kohlegrube. Nun haben ihn die AktivistInnen benutzt, um gegen die
Autoindustrie zu protestieren. Der Maleranzug ist ein Symbol geworden wie
die lachende Sonne der Anti-Atom-Bewegung.
Doch der Protest in Frankfurt hat auch gezeigt, womit man sich keinen
Gefallen tut. Die Blockade der Messe war wirksam – aber nicht der
Autofahrer ist der Gegner, sondern die Automobilindustrie. Das zu
vermitteln, hat nicht immer funktioniert. Wer BesucherInen der Automesse
„Ihr könnt nach Hause gehen“ zuruft wie in einem Fußballstadion, macht aus
einer politisch-kollektiven eine moralische-individuelle Frage. Dann kann
Verkehrsminister Andi Scheuer weiter in Talkshows die Pflegerin auf dem
Land bemühen, die auf ihr Auto angewiesen ist.
## These 5: Die Klimabewegung muss diverser werden
Denn diese Pflegerin versteht sich bisher selten als Teil der
Klimabewegung. Die Bewegung ist hauptsächlich weiß, akademisch, urban,
privilegiert. Darüber muss sie sich nicht grämen, diesen Befund teilt sie
mit fast allen sozialen Bewegungen in Deutschland. Politisch aktiv sein,
das muss man sich leider leisten können.
Doch während die Homogenität sonst kein Erfolgshindernis war, muss die
Klimabewegung aus eigenem Interesse diverser werden. Menschen, die zu ihrer
Familie auf einen anderen Kontinent fliegen wollen, müssen sich genauso
wiederfinden wie Arbeiter, für die der Benzinpreis eine Rolle spielt. Es
gibt Ansätze dafür, etwa in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften. Aber am
Klimastreik werden sich vor allem Menschen mit flexiblen Arbeitszeiten
beteiligen. Auch hier lohnt sich ein Blick ins Wendland, wo man es
geschafft hat, auf lokaler Ebene auch Bauern und andere Menschen zu
politisieren, die sonst keine Straßen besetzen.
## These 6: Wissenschaftlichkeit reicht nicht aus
Bisher reicht es Fridays for Future, auf die Klimaschutzziele zu verweisen,
die von der Bundesregierung unterschrieben wurden. Die Bewegung muss sich
nicht auf Überzeugungen, sondern kann sich auf Wissenschaft berufen. Das
ist ein verdammt mächtiges Instrument, weil sich die meisten Menschen gern
in der Tradition der Aufklärung sehen.
Auf lange Sicht könnte das aber zu wenig sein. Was passiert, wenn eine
Bundesregierung einen Plan vorlegt, der tatsächlich weitreichend ist? Würde
sich die Bewegung mit Elektroautos für alle abspeisen lassen? Welche Utopie
hat sie? „Rechts-Links-Fragen lösen sich gerade auf“, sagt etwa Luisa
Neubauer. Gleichzeitig fordern Neubauer und viele andere AktivistInnen,
dass die Wachstumslogik in Frage gestellt werden muss.
Über die Frage, ob die Rettung der Erde im Kapitalismus funktioniert,
herrscht keine Einigkeit – es ist keine Frage der Wissenschaft, sondern der
Überzeugung. Was passiert, wenn Klimaschutzpläne die einen belasten werden,
die anderen nicht? Die Antwort könnte die Bewegung spalten und von ihren
UnterstützerInnen entfremden, etwa von den Grünen, die sich mit
Umverteilung schwer tun.
## These 7: Entscheidend ist auf der Straße
Als die Grünen 1998 mit der SPD koalierten und beide den schrittweisen
Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, ließ die Bewegung auf der Straße
nach: Castor-Transporte wurden weiter blockiert, aber weniger Menschen
demonstrierten. Erst nach der Katastrophe in Fukushima formierte sich
wieder eine Bewegung, die eine konservative Kanzlerin zum endgültigen
Atomausstieg zwang.
Nun steht die Gründung einer Partei nicht bevor (obwohl in Erlangen bereits
eine Klimaliste für den Stadtrat kandidiert). Aber wenn im nächsten Jahr
die Grünen in die Regierung eintreten und weitere Klimagesetze
verabschieden sollten, wird das manchen zu dem Trugschluss verleiten, dass
nun die Arbeit getan wäre. Doch ohne Unterstützung von unten werden
Gesetzesvorschläge von Lobbyisten und Talkshows abgestumpft. Regierungen
können immer nur so radikal sein, wie es die Politik auf der Straße ist.
19 Sep 2019
## LINKS
[1] http://gorleben-archiv.de/wordpress/chronik/1979-2/
## AUTOREN
Kersten Augustin
## TAGS
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