# taz.de -- Der Hausbesuch: Der Hund rettete ihr Leben | |
> Hedi Menge lernte Steno und assistierte Bürgermeistern. Weil sie | |
> Contergan-geschädigt ist, ist sie auf ihren Assistenzhund Bobby | |
> angewiesen. | |
Bild: Hedi Menge | |
Was ist wichtiger: die Vergangenheit oder die Gegenwart? Zu Besuch bei | |
Hedi Menge in Berlin, die verpassten Chancen nicht nachtrauert. | |
Draußen: Eine ruhige Wohngegend in Berlin-Wedding. Junge Frauen mit Eis am | |
Stiel schlendern die Straße entlang, eine Ecke weiter spielen ein paar | |
Jungs Tischtennis. | |
Drinnen: Hedi Menge nimmt ihren Besuch gemeinsam mit ihrem Hund Bobby in | |
Empfang. Wenn man in die Wohnung tritt, fällt der Blick auf die | |
gegenüberliegende Tür, an der ein Plakat hängt mit Rosa-Luxemburg-Zitat: | |
„Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer ‚das | |
laut zu sagen, was ist‘.“ Hedi Menge hat es verinnerlicht. Im Flur steht | |
ein Regal mit Kochbüchern – eine umfangreiche Sammlung, sortiert nach | |
Ländern. „Die Kochbücher sind eine Wertanlage“, sagt Hedi Menge. Sie | |
verkauft regelmäßig auf Flohmärkten. | |
Tierliebe: Um den Hals trägt Menge eine Kette mit Hundeanhänger: „Das soll | |
Bobby sein.“ Der legt sich während des Gesprächs unter den Tisch. „Ick bin | |
ein Berliner“ steht auf seinem Halsband. Geboren ist Menge 1961 im | |
Sauerland, „wir hatten Landwirtschaft“. Sie erinnert sich an Ziegen, | |
Kaninchen, einen großen Hühnerstall. „Und irgendwann kam dann immer ein | |
Hund dazu.“ Seit Mitte der 70er hat sie einen eigenen. | |
Hunderetterin: Von den Assistenzhunden hat sie zehn Jahre später gehört. | |
„Ich hatte einen kleinen Pudel-Mix in Spandau aus dem Mülleimer gefischt.“ | |
Ein Welpe von sechs Wochen, den sie mit der Flasche großzog. „Ich hatte die | |
Hoffnung, dass ich aus ihm einen Assistenzhund machen könnte“, sagt Menge, | |
„damals hieß es noch Behindertenbegleithund“. Doch ihr fehlte das Know-how. | |
Bobby: Menges Hund Bobby ist schlau. Er kann Wäsche waschen, Schubladen | |
öffnen und den Rettungsdienst rufen. Wenn Menge ein Signalwort sagt, drückt | |
Bobby mit der Pfote auf einen Knopf auf dem Boden und die Verbindung zum | |
Roten Kreuz wird hergestellt. Menge und Bobby machen es vor – bis Menge dem | |
Mann in der Leitung erklärt, dass es heute bloß ein Test ist. Wenn die | |
Rettungskräfte im Ernstfall vor der Tür stehen und ein Signalwort sagen, | |
öffnet Bobby sie und legt sich still auf eine Decke. So habe er ihr schon | |
mehrmals das Leben gerettet – etwa als Menge einen allergischen Schock | |
durch ein Medikament erlitt. Ein anderes Mal sei sie mit dem Bein unter den | |
Schrank gerutscht und nicht mehr hochgekommen. | |
Assistenzhund: Menge zeigt einen Kalender des Vereins „Assistenzhundewelt | |
e. V.“. Sie gründete ihn, weil sie andere Menschen mit Beeinträchtigung | |
unterstützen möchte, auch einen solchen Hund zu bekommen. Zwischen 25.000 | |
und 30.000 Euro koste ein ausgebildeter Assistenzhund. Menge kämpft für die | |
Anerkennung der Hunde als Hilfsmittel und einheitliche Standards für die | |
Ausbildung. Lediglich für Blindenführhunde gibt es gesetzliche Richtlinien. | |
„Alles was an Hunden dazukam, wird nicht bedacht. Und die Krankenkassen | |
lehnen eine Kostenübernahme grundsätzlich ab“, schimpft Menge. | |
Pflegenotstand: Sie spricht von „Bremsern“ in der Politik. Das | |
Gesundheitsministerium verkenne die Dringlichkeit. „Wir haben ja diesen | |
sogenannten Pflegenotstand.“ Menge sagt, die Hunde könnten da entlasten. | |
Würde sie das, was ihr Hund für sie macht, mit menschlicher Hilfe abdecken, | |
müsste sie ein Vielfaches zahlen. Diejenigen, die die Hunde trainieren, | |
haben Verantwortung, weshalb es wichtig sei, sich auf Profis zu verlassen. | |
Menge erinnert an einen Vorfall in Berlin, bei dem ein Blindenführhund | |
seinen Besitzer vor die U-Bahn zog. | |
Steno: Nach dem Schulabschluss hat Menge Betriebs- und | |
Verwaltungswirtschaft studiert, mit Schwerpunkt Informationstechnik. Als | |
sie kurz vor der Wende nach Berlin kam, begann sie als Sachbearbeiterin in | |
der Bürgerberatung zu arbeiten. Bereits im zweiten, dritten Schuljahr hatte | |
sie nebenher Stenotypistin gelernt: „Ich habe in der Schule schon | |
Schreibmaschine geschrieben statt mit der Hand.“ | |
Senat: In der Senatskanzlei hätten sie in den 80ern jemanden gebraucht, der | |
sich mit Computern auskannte: Menge konnte das. Sie sei die Erste gewesen, | |
die Haushaltspläne in den Computer eingab. Die Aufgaben waren vielfältig. | |
„Ich habe so einiges an interessanten Sachen miterlebt. Man war ziemlich | |
nah an Personen dran“, erinnert sie sich. Die Besuche von Gorbatschow, | |
Bush, Königen habe sie mitbekommen. Sie trugen sich in das Goldene Buch | |
ein. „Was für mich auch beeindruckend war, war die | |
Fußballweltmeisterschaft.“ | |
Fotografie: Menge mag Großevents, früher hat sie sie gern fotografiert. | |
„Mir macht es Spaß, den Augenblick festzuhalten.“ Dazu ist sie durch Europa | |
gereist. Sie fragt um Hilfe, um die schweren Fotoalben in dem Nebenzimmer | |
aus dem Regal zu nehmen, zu packen und auf den Tisch zu legen. Dann | |
blättert sie durch die Seiten voller Erinnerung. Menge mochte den Trubel | |
und stürzte sich als Beobachterin hinein, zum Beispiel bei | |
Techno-Veranstaltungen. „Ich war sogar auf der ersten Love Parade mit | |
dabei.“ Menschen in Bewegung faszinierten sie. Am liebsten fotografierte | |
sie Menschenmassen von oben. Und: die Szenen danach, als die Party vorbei | |
war. | |
Stahlkappen: Sie trug bei den Veranstaltungen „Sicherheitskleidung“. „Für | |
solche Sachen habe ich immer noch Spezialschuhe mit Stahlkappen, da können | |
mir die Lkws über die Füße fahren und es passiert mir nichts. Und sollte | |
mir jemand zu nahe kommen: Wenn ich zutrete, tut’s weh.“ Inzwischen | |
fotografiert sie ruhigere Motive. Tiere etwa – sie mag es, „wenn man auf | |
dem Hochsitz sitzt und warten muss, dass der Kranich kommt oder der | |
Seeadler“. Auch die Technik an der Fotografie interessiert sie. Manche | |
ihrer Bilder hat sie selbst entwickelt. | |
Contergan: Menge schaut starr geradeaus und spricht ruhiger, als es um das | |
Contergan geht. Ein Medikament, das Schwangeren verschrieben wurde, gegen | |
Übelkeit und Schlaflosigkeit helfen sollte – und die Entwicklung von Föten | |
störte. Manche Geschädigte kamen tot auf die Welt. Es ist ein Schicksal, | |
das viele Menschen teilen, die geboren wurden, nachdem das Medikament 1957 | |
auf den Markt kam. Die Überlebenden werden nun gemeinsam alt. | |
Aufarbeitung: Menge stützt sich auf die dicken Fotoalben und faltet die | |
Hände, die an der Schulter liegen. „Die Contergan-Community ist sehr | |
zwiegespalten.“ Es gebe Menschen, „die sagen: Okay, das hat mich getroffen, | |
ich muss damit abschließen und einen Schlussstrich ziehen.“ So wie sie. „Es | |
gibt aber auch Leute, die immer noch dabei sind zu hadern, teilweise mit | |
den Eltern, teilweise mit Grünenthal“, dem Hersteller des Arzneimittels. | |
Arzneimittelskandal: Die Eltern mussten einen Vergleich unterschreiben, um | |
Geld zu bekommen für die Kinder. „Man einigte sich, bevor das Urteil | |
fällt.“ Grünenthal zahlte Geld in eine Stiftung. „Die Eltern mussten | |
unterzeichnen, dass sie keine weiteren Ansprüche gegen Grünenthal mehr | |
geltend machen würden. Im Bundestag wurde deutlich gesagt, dass die Eltern | |
sonst gegen die Interessen der Kinder handeln würden.“ Beratung für die | |
Eltern habe es keine gegeben. „Denken Sie sich zurück in die 60er Jahre, | |
wenn die Obrigkeit etwas sagte, dann gilt’s.“ | |
Selbermachen: Beim Kochen hilft heute eine Assistentin. Menge macht mit ihr | |
zusammen viel selbst, weil sie dann weiß, „was drin ist“. Zum Beispiel | |
Ketchup. „Wenn eine Assistentin Zeit hat, gehen wir auf den Wochenmarkt. | |
Ich dirigiere und schmecke ab.“ Menge mag es, etwas zu schaffen, zu | |
kreieren. Sie bastelt auch gerne Schmuck. | |
Einbrecher: Kürzlich wurde in ihrer Wohnung eingebrochen. Jemand habe ihren | |
Schmuck durchwühlt. Der Einbrecher kam über den Hof und habe die Schubladen | |
aufgerissen, „die Sachen ganz akkurat von A nach B geräumt“. Manches habe | |
sie immer noch nicht zurückgeräumt, denn dafür braucht sie Unterstützung. | |
„Ich habe dann nur gesehen, dass Schubladen aufstehen. Er scheint mit einem | |
Döschen silberner Perlen aus Plastik davongezogen zu sein.“ Aber: „Bobby | |
ist Gott sei Dank darauf aufmerksam geworden.“ | |
20 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Lea De Gregorio | |
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