# taz.de -- Die Wahrheit: Wonnen der Wiederholung | |
> Mit den Jahren kommen die Geschichten, mit denen Freunde einen | |
> langweilen. Aber macht man das nicht längst selbst – wie einst Eltern und | |
> Großeltern? | |
Mit dem Alter kommen die Geschichten. Und zwar leider immer wieder. Es gibt | |
zwar rücksichtsvolle Zeitgenossen, die ihre Dauerbrenner mit einem „Hatte | |
ich dir eigentlich schon erzählt, wie ich mal …“ einleiten, aber wenn man | |
dann antwortet: „Ja, klar, neulich erst!“ – dann reden sie trotzdem weiter | |
wie nichts Gutes. Die angeworfene Maschine ist nicht mehr zu stoppen, die | |
Geschichte muss aus dem Körper heraus, wie andere Dinge auch. | |
Vielleicht hätte es geholfen, nicht zu lügen. Denn sie haben nicht nur | |
neulich, sondern auch schon bei zehn früheren Gelegenheiten dieselbe Story | |
zum Besten gegeben. Während ich diese Wiederholungswonnen zunächst am | |
Kaffeetisch meiner Oma durchlitt, die mich mit Sahnebaisers bestach und vom | |
Erzählen immer sehr gute Laune bekam, was ich mochte, obwohl mir jedes Mal | |
schlecht wurde, übertrug sich das irgendwann auf die nächste Generation. | |
Meine Eltern erzählten von ihrer Jugend. Falls sie erreichen wollten, dass | |
ihre Zweitgeborene den Zweiten Weltkrieg niemals vergisst – es hat | |
geklappt. Ich weiß nicht, wie oft ich vernommen habe, dass mein Vater mit | |
der Flak herumgeballert hat und meine Mutter mit hohem Fieber als | |
Straßenbahnschaffnerin durch das halb zerbombte Hamburg zu fahren hatte. | |
Und dass sie beim Reichsarbeitsdienst täglich um fünf Uhr von einer | |
Sadistin geweckt wurde, die gehässig in den Saal brüllte: „Es tut mir leid, | |
es ist so weit!“ Das höre ich seitdem im Kopf jeden Tag, wenn mein Wecker | |
klingelt. | |
Inzwischen ist diese spezielle Form der Anekdotendemenz auch in meiner | |
eigenen Generation angekommen. Bei langjährigen Freundinnen und Freunden | |
bin ich unnötig vertraut mit den Heldentaten oder skurrilen Erlebnissen, | |
die irgendwann nach dem zweiten Glas Wein hervorsprudeln, erkenne sie aber | |
manchmal verblüffenderweise dennoch kaum wieder. Denn wie ein guter | |
Kuchenteig wird die Handlung nach und nach weiter in Form geknetet, mit | |
Übertreibungen aufgebläht und mit erfundenen Pointen versüßt. Beim | |
fünfzehnten Hören bleibt aber trotz allen erzählerischen Bemühungen doch | |
nur noch ein zäher, harter Brocken, über den man leicht gezwungen lacht. | |
Noch schwieriger wird es, wenn ich vor zwanzig Jahren bei den Ereignissen | |
dabei war, die hier ein zweites, variantenreiches Leben in der | |
Überlieferung gewinnen. Was sagt man da? Du lügst? Ach nee, so viele | |
Freunde habe ich auch nicht. | |
Übrigens habe ich diesen leicht abwesenden Blick und das höfliche Lächeln | |
auch schon bei anderen bemerkt, wenn ich mal wieder vom Tauchen mit Haien, | |
vom Segeln vor Papua-Neuguinea oder von meiner Abschlussprüfung in | |
Literaturwissenschaft erzähle. Dabei war das alles wirklich komisch! Kaum | |
noch lebende Zeugen! Kann man auch zweimal hören, ihr Verräter! Und nehmt | |
gefälligst noch von den Sahnebaisers. | |
14 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Susanne Fischer | |
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