| # taz.de -- Debatte um Patriotismus: „Wir“ und „die“, was soll das sein? | |
| > Manche Linke berufen sich auf ihre Liebe zur Heimat. Dabei ist es nötig, | |
| > ein „Wir“ zu schaffen, das sich auf Werte bezieht – und nicht auf | |
| > Herkunft. | |
| Bild: Reicht es nicht, Teil der Weltgemeinschaft zu sein? | |
| Die Idee der Nation wurde in den letzten Jahrzehnten immer weniger wichtig. | |
| Aber seit einigen Jahren feiert sie eine teilweise Renaissance. Es sind | |
| nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten, die die Liebe zur Nation | |
| hochhalten – auch Progressive treten vermehrt für eine eigene [1][positive | |
| Haltung zum eigenen Land] ein. Sie propagieren eine freundliche | |
| Vaterlandsliebe, die alle Menschen einschließt, die ein Land bewohnen. | |
| Eine offene und pluralistische Nation forderte beispielsweise der | |
| Grünenpolitiker Cem Özdemir mit einer Rede im Bundestag, für die er die | |
| Auszeichnung „Rede des Jahres 2018“ erhielt. Damit machte er explizit den | |
| Rechten die Deutungshoheit über den Patriotismus streitig. | |
| Ähnliches fordert auch der amerikanische Präsidentschaftskandidat Bernie | |
| Sanders. In einer Rede, in der er sein Konzept eines demokratischen | |
| Sozialismus erklärt, sagt er: „Wir müssen uns als Teil einer Nation sehen, | |
| einer Community, einer Gesellschaft – unabhängig von Rasse, Geschlecht, | |
| Religion, sexueller Orientierung oder Herkunftsland.“ | |
| Die Idee ist die: Es ist sinnvoll, die Vaterlandsliebe zu integrieren und | |
| weltoffen zu definieren. Wenn diejenigen, die ein emotionales Verhältnis | |
| zur Nation haben, nur als reaktionär angegriffen werden, überlässt man es | |
| der Rechten, die Liebe zur Nation zu bestimmen. An diesem Argument ist | |
| etwas dran. | |
| ## Gemeinsame Geschichte und Werte | |
| Die Art von offenem Patriotismus, wie sie von Sanders, Özdemir und vielen | |
| anderen vertreten wird, nennt man in Deutschland Verfassungspatriotismus. | |
| Das ist ein staatsbürgerschaftliches Konzept, das auf gemeinsamen | |
| politischen Werten wie Demokratie und Meinungsfreiheit beruhen soll, statt | |
| auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften. Die Nation wird durch eine | |
| gemeinsam erlebte Geschichte und gemeinsame Werte zusammengehalten. | |
| Der Sozialphilosoph Charles Taylor hält den [2][Verfassungspatriotismus] | |
| für den Motor moderner Demokratien. Er beinhalte Stolz und Scham. Wenn ein | |
| Gesetz verabschiedet werde, das allen den gleichen Platz in der | |
| Gesellschaft gebe, fühle er stolz, während er sich schäme, wenn ein Gesetz | |
| Menschen diskriminiere. | |
| Das Problem daran ist: Vieles spricht dafür, dass der abwertende, | |
| aggressive Nationalismus nur die andere Seite dieses freundlichen | |
| Patriotismus ist. Das hieße, wer das eine fördert, fördert gleichzeitig | |
| auch das andere. Selbst in den USA, wo der nationale „Gründungsmythos“ als | |
| einschließender und offener gedacht ist, wurde ein Nationalchauvinist zum | |
| Präsidenten gewählt. Mindestens in Deutschland sind die Begriffe Volk und | |
| Nation außerdem stark von völkischen Assoziationen bestimmt. | |
| ## Werte sind unabhängig von der Herkunft | |
| Aber auch ohne solche Traditionen begünstigt die innere Logik des | |
| Nationalen Ausgrenzung und Unterdrückung. Das Kernproblem ist, dass der | |
| „Verfassungspatriotismus“ sich nicht zwischen Universalismus und | |
| Partikularismus entscheiden kann. Im Kern will er universalistisch sein, | |
| schließlich wird im ersten Satz des Grundgesetzes nicht die Würde des | |
| Deutschen ausgerufen, sondern die Würde des Menschen. Der Begriff „Nation“ | |
| bezieht sich aber eben auf die Herkunft. Werte sind unabhängig von der | |
| Herkunft. | |
| Sobald wir Menschen als Iren, Italiener oder Deutsche bezeichnen, ziehen | |
| wir eine Linie und müssen diesen „Unterschied“ markieren. Unterschiede | |
| werden in Gegensätzen ausgedrückt. Wenn Deutsche „fleißig“ sind, muss es | |
| woanders welche geben, die „faul“ sind. Wenn wir von verschiedenen | |
| „Kulturkreisen“ sprechen, die über nationale Begriffe vermittelt werden, | |
| dann neigen wir dazu, den Angehörigen einer Nation bestimmte, feste | |
| Eigenschaften zuzuweisen, entlang dieser Unterschiedslogik. | |
| Bei Fußball behaupten Kommentatoren gerne, dass Italiener oder Argentinier | |
| besonders „heißblütig“ seien, was im Umkehrschluss heißt, dass diese ihre | |
| Gefühle nicht kontrollieren können. Die Nazis erfanden sogar das Wort | |
| „undeutsch“, mit dem alle und alles ausgeschlossen und abgewertet werden, | |
| die nicht den festgelegten Eigenschaften entsprechen. | |
| ## Neigungen sind keine Naturgesetze | |
| Laut dem französischen Philosophen François Jullien ist es sinnvoller, von | |
| kulturellen „Abständen“ statt von „Unterschieden“ zu sprechen. Demnach… | |
| es zwar Abstände, doch die Übergänge sind fließend und überbrückbar und im | |
| Dazwischen passiert ganz viel. Unterschiede definieren sich über | |
| Gegensätze. Und nur in Gegensätzen zu denken verzerrt die Wahrnehmung. | |
| Solche festlegenden Zuschreibungen entstehen, wenn Menschen nach Herkunft | |
| bezeichnet oder gedacht werden. Es ist sozialpsychologisch gut belegt, dass | |
| Menschen dazu neigen, die „Eigengruppe“ zu erhöhen und zu vereinheitlichen, | |
| die Fremdgruppe wird abgewertet und ebenfalls vereinheitlicht. | |
| Neigungen wie diese sind keine Naturgesetze. Sie können durch Wissen und | |
| Nachdenken an Macht verlieren. Dennoch sollten wir uns gut überlegen, | |
| entlang welcher Grenze zwischen „wir“ und „die“ unterschieden wird. | |
| Gewinnbringender wäre es, die Grenze zwischen denen zu ziehen, die | |
| Solidarität und Freiheit lieben, und solchen, die es nicht tun. | |
| ## Liebe zur Freiheit und Menschlichkeit | |
| Warum sollten sich überhaupt Rechte und Linke, Ausbeutende und | |
| Ausgebeutete, Gerechtigkeitsliebende und Nach-unten-Treter einer | |
| Gemeinschaft zugehörig fühlen? Die Nation vereint, was nicht zusammenpasst. | |
| Dennoch hat das Konzept eines freundlichen Patriotismus Vorteile: Es stellt | |
| die rechten Deutungen von Nation und Vaterlandsliebe in Frage. Daher sollte | |
| man VerfassungspatriotInnen nicht als latente Rechtsextreme diffamieren. | |
| Es ist bestens möglich, ein „Wir“ zu schaffen, das sich konsequent auf | |
| Werte und nicht auf Herkunft bezieht, wie es die riesige Unteilbar-Demo in | |
| Berlin 2018 so erfolgreich zeigte. Was diese Menschen einte, war die Liebe | |
| zur Menschlichkeit und zur Freiheit, nicht zur Nation. | |
| 25 Aug 2019 | |
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| Houssam Hamade | |
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